Kosovo, Syri I Popullit

Intro “Syri I Popullit”

Die Geschichte von “Syri I Popullit” ist “ein Klagelied über die verletzte Freiheit, über den eklatanten Missbrauch des Gesetzes und der Verfassung, über die getöteten Hoffnungen mehrerer Generationen”.

Përkthimin në shqip të këti artikulli e keni këtu.

Ich möchte die Geschichte von “Syri I Popullit” (auf deutsch “Das Auge des Volkes”) erzählen. Es ist auch die Geschichte von Sadri Ramabaja, den ich seit 1998, seit meiner Berichterstattung für das Schweizer Fernsehen über den Kosovo-Krieg kenne.

Sie bietet verstörende Blicke hinter die Fassade der Politlandschaft der jungen Republik Kosovo. Sie wirft ein Schlaglicht auf einige dunkle Kapitel des Befreiungskrieg 1998/99, auf den teils blutigen Kampf um die Macht innerhalb der Führung der UÇK noch während des Kriegs und auf die Machenschaften ihrer wichtigsten Exponenten zur Stärkung und Erhaltung ihrer Machtposition in der Nachkriegszeit.

Die Geschichte von “Syri I Popullit” ist aber auch von brisanter Aktualität: Die Führungsriege um Staatspräsident Hashim Thaci hat “Syri I Popullit” gebraucht, um zu versuchen, ihre zwei grössten Bedrohungen abzuwehren:

Erstens den Wahlsieg und die Machtübernahme der Bewegung Vetëvendosje (was inwischen ja geschehen ist) und
zweitens die Verhaftung Hashim Thacis et. al. durch das Kosovo Spezialgericht in Den Haag wegen des Verdachts auf Kriegsverbrechen (was ja inzwischen ebenfalls geschehen ist).

Die gesamte Führungsriege des Staates Kosovo um Hashim Thaci ist im Prozess zu “Syri I Popullit” 2019/2020 persönlich als Zeuge der Anklage aufgetreten, welche Sadri Ramabaja beschuldigte, der Ideologe einer Terrororganisation namens “Syri I Popullit” zu sein, welche darauf abziele, das politische und wirtschaftliche System in Kosovo zu stürzen. Sadri Ramabajas Organisation beabsichtige, die höchsten Vertreter des Staates Kosovo zu ermorden und darüberhinaus eine ganze Reihe weiterer öffentlicher Personen wie Journalisten, Mitglieder des Justizrats, Geistliche, usw. zu töten.

Das Gericht hat Sadri Ramabaja, der fast 3 Jahre in Untersuchungshaft gesessen hatte, im Herbst 2020 zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt. Sein Verteidiger hat sofort Berufung eingelegt, welcher das Appellationsgericht am 23. September 2020 vollumfänglich zugestimmt hat. Es hat das Urteil des erstinstanzlichen Gerichts für nichtig erklärt und ein neues Verfahren angeordnet. Pikanterweise hat das Appelationsgericht aber explizit verlangt, dass die Vorwürfe n Sachen “Syri I Popullit” im neuen Verfahren gegen Sadri Ramabaja nicht mehr erhoben werden dürfen. Geklärt werde soll einzig noch die Frage, welche Rolle Sadri Ramabaja bei einem Attentat gespielt haben könnte, das ein geistig verwirrter Täter im März 2017 auf Azem Vllasi, den ehemaligen Vorsitzenden des Bundes der Kommunisten von Kosovo, verübt hat.

Ich werde die Geschichte von “Syri I Popullit” in mehreren Kapiteln (Blogbeiträgen) erzählen und nicht zuletzt einige Hintergründe aufzeigen, die bisher auch in Kosovo noch wenig bekannt sind oder zumindest kaum je öffentlich benannt wurden. Ich habe dazu in den letzten Monaten einige Hintergrundgespräche mit Insidern geführt, welche ich teils auch auf Video aufgezeichnet habe. Weiter Gespräche werde ich in den kommenden Monaten führen und hier im Blog laufend darüber berichten.

Beginnen möchte ich heute mit dem Interview, das ich mit Sadri Ramabajas Verteidiger, Anwalt Ramiz Krasniqi, am 11. Juni 2021 in dessen Anwaltskanzlei in Prishtina geführt habe. Ich werde in einem späteren Blogbeitrag noch ausführlicher darauf eingehen, möchte aber aus aktuellem Anlass das ganze Video-Interview bereits heute veröffentlichen. Es ist auf albanisch. Das Transkript ist hier (albanisch), die Übersetzung auf deutsch hier nachzulesen.

Unmittelbarer Anlass für das Gespräch mit Anwalt Krasniqi: Er hat Ende Mai 2021 eine Buch über den Prozess veröffentlicht:

“BALLËPËRBALLË ME KRERËT E SHIK-ut – Procesi politik ndaj Dr Sadri Ramabajës – Fasadë legale e krimit”.
Auf deutsch: “Auge in Auge mit den Führern des SHIK (ehemaliger Geheimdienst Kosovo; AM) – Der politische Prozess gegen Dr. Sadri Ramabaja – Legale Fassade eines Verbrechens”.

Umschlag Buch von Anwalt Krasniqi

Im Buch und im Interview bezeichnet Anwalt Krasniqi den Prozess als “eine Schande für die Justiz Kosovos”. Er wirft dem Gericht vor, nicht nur 9 teils gravierende Verfahrensfehler gemacht, sondern schlicht einen politischen Prozess geführt zu haben, um den Interessen der Führungsriege um Präsident Hashim Thaci zu dienen.

Im Interview zeigt sich Anwalt Krasniqi auch empört (oder besser enttäuscht?) über die dünne Berichterstattung der kosovarischen Medien über den Prozess. Die Journalisten, welche teils persönlich während des Prozesses im Gerichstsaal dabei gewesen seien, hätten nicht nur gänzlich darauf verzichtet, die Hintergründe des ganzen Falles “Syri I Popullit” zu recherchen und aufzuzeigen, sie hätten auch schlicht nicht die ganze Wahrheit erzählt, über das, was sie im Prozess gesehen und gehört hatten.

Es ist tatsächlich auch für mich sehr erstaunlich, mit welcher “Zurückhaltung” die Medien über den Fall berichtet haben. Ich kenne einige Journalisten in Kosovo und ich bin mir ziemlich sicher, dass ihnen die Brisanz dieses Falles, bei dem die gesamte Führungsriege des Staates als Zeugen aufgetreten ist, sehr wohl bewusst, wenn auch nicht unbedingt im Detail bekannt war. Auch darüber werde ich in einem späteren Blogbeitrag noch versuchen, mehr zu erzählen.

Der einzige Journalist, der sich intensiv mit dem Fall “Syri I Popullit” beschäftigt hat, ist Xhafer Shatri. Ihn kennt man in Kosovo als ehemaligen Informationminister der Regierung Bukoshi in den 1990er Jahren und einen der ersten Chefredakteure der (UCK-) Zeitung “Zeri e Kosoves”. Er lebt seit langem in Genf und führt einen eigenen Blog: xhafershatri.info. Dort hat er unter dem Titel “In den Fängen der Pronto-Mafia” ausführlich über den Fall “Syri I Popullit” berichtet.

Anlässlich der öffentlichen Präsentation des Buches von Anwalt Krasniqi hat Xhafer Shatri eine eindrückliche Rede gehalten. Der zentrale Satz dabei war für mich:
“Dieses Buch ist ein Klagelied über die verletzte Freiheit, über den eklatanten Missbrauch des Gesetzes und der Verfassung, über die getöteten Hoffnungen mehrerer Generationen.”

“… die getötete Hoffnung mehrere Generationen”. DAS ist für mich der Kern der ganzen Geschichte von “Syri I Popullit”, respektive von Sadri Ramabaja: Sadri Ramabaja ist die Symbolfigur einer ganzen Generation von Kosovaren, welche bitter enttäuscht sind darüber, was aus ihrem Traum eines freien Kosovo geworden ist. Sie haben Alles gegeben, diese Freiheit mit der Unabhängigkeit eines eigenen Staates zu erreichen. Viele sogar ihr Leben.

Sadri Ramabaja hat wie viele seiner Mitkämpfer in den 1980er Jahren mehrer Jahre in den Gefängnissen des Milosevic-Regimes gelitten: gefoltert, erniedrigt, … . Er hat viele Jahre in der Schweiz als Asylant in schwierigen Umständen leben müssen, gleichzeitig aber aktiv am Aufbau der UCK mitgewirkt. Er ist gleich nach dem Krieg nach Kosovo zurückgekehrt und hat sich beim Aufbau des jungen Staates engagiert … um sich jetzt erneut im Gefängnis wiederzufinden. Fast 3 Jahre war er seit 2017 in SEINEM Kosovo im Gefängnis; beschuldigt ein Staatsfeind zu sein; eingesperrt von den neuen Machthabern, seinen ehemaligen Mitststreitern, welche die ganze Macht an sich gerissen und sich persönlich und ihre Clans bereichert haben, während der Staat in Korruption und Misswirtschaft versank und die breite Masse der Kosovarinnen und Kosovaren nach wie vor unter prekären Verhältnissen leben müssen.

Das ist die Geschichte, die ich mit “Syri I Popullit” erzählen möchte: Die Geschichte der unzähligen frustrierten und enttäuschten Kosovaren, die sich von der Regierung der ehemalige UCK-Grössen betrogen fühlen, die noch immer auf bessere Zeiten hoffen: auf eine Regierung, die einen Staatsapparat aufbaut und betreibt, der im Dienst des Volkes arbeitet, nicht im Dienst der Machthaber.

Ich weiss, ich bin ein Fremder für die Kosovaren, trotz der Zeit, die ich dort verbracht habe und den vielen Recherchen und Gesprächen, die ich dort mit vielen Leuten geführt habe. Mir ist bewusst, dass ich mit meiner Erzählung über “Syri I Popullit” riskiere, einige meiner guten Bekannten zu verärgern. Andere werden mir die Legitimation, überhaupt über diese Geschichte nachzudenken, absprechen.
Ich weiss aber auch um die Unterstützung Vieler und ich hoffe, mit meiner Sicht auf die leidige Staatsaffäre “Syri I Popullit” einen kleinen Beitrag zur gedeihlichen Entwicklung von Kosovo beitragen zu können.

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