Kosovo, Syri I Popullit

“Die Demontage der Verbrechen des Staates beginnt”

“Skandal – Geheimdienstagenten als falsche Zeugen” titelt die neue kosovarische Website “paparaci.live” des bekannten Journalisten Vehbi Kajtazi. Während ich aus politischen Gründen noch zögere, meine Serie “Syri i popullit” auf Contextlink fortzusetzen, holt mich die Aktualität ein.

Paparaci.live berichtet, dass die wichtigsten Zeugen des Prozesses vor Gericht gelogen hätten, und deren wahre Identität nach Absprache zwischen dem Geheimdienstchef und dem zuständigen Staatsanwalt vor dem Gericht geheim gehalten wurde. Diese Zeugen seien nicht wie behauptet “ein Zigarettenverkäufer und ein Arbeitsloser” gewesen, sondern tatsächlich Agenten des Geheimdienstes.

Die falschen Zeugen/Geheimagenten hatten vor Gericht ausgesagt, sie hätten in einem Restaurant “zufällig” ein Gespräch von Sadri Ramabaja mit zwei andern Herren an einem Nebentisch mitbekommen, bei dem die Rede von der Ermordung der obersten Staatsführung, inkl. Präsident Hashim Thaci, gewesen sei. Weil sie Sadri Ramabaja vom Fernsehen als einen der Exponenten der stärksten Oppositionspartei Vetëvendosje kannten, hätten sie das Gehörte notiert und der Staatsschutzbehörde weitergegeben.

Tatsächlich hatten die Agenten dieses Gespräch im Restaurant “Panorama” in Prishtina observiert. In dem Protokoll des Gesprächs, welches sie ihren Vorgesetzten abgeliefert haben, welches Paparaci offensichtlich vorliegt und aus dem Paparaci zitiert, war aber nirgends die Rede von der Ermordung von Hashim Thaci oder irgendwelcher anderer Leute.
Die falsche Behauptung der Geheimdienstagenten, Sadri Ramabaja (von Vetëvendosje) habe auch von Attentaten auf die oberste Staatsführung gesprochen, hat Hashim Thaci zum Anlass genommen, öffentlich und auch als Zeuge vor Gericht zu behaupten, hinter der “Terrororganisation” “Syri i popullit” stehe Vetëvendosje. Die tatsächlichen Anführer von “Syri i popullit” seien neben Sadri Ramabaja auch Albin Kurti und Glauk Konjufca, die Köpfe von Vetëvendosje. Das Ziel Thacis war für alle offensichtlich: Wäre es, wie der Staatspräsident vor Gericht verlangte, zu einer Ausweitung der Klage auf Kurti und Konjufca gekommen, wäre Vetëvendosje von den anstehen Wahlen augeschlossen worden, und Thaci hätte damit die drohende Wahlniederlage und den Machtwechsel zu Vetëvendosje (der ja inzwischen stattgefunden hat) abwenden könnten.

Wie Paparaci weiter berichtet, hatten der Leiter des Geheimdienstes, Driton Gashi, und der zuständige Staastanwalt, Sylë Hoxha, in einer mündlichen Absprache, die Verschleierung der wahren Identität der Agenten/Zeugen beschlossen. Vor Gericht aufgetreten sind diese dann als “geschützte Zeugen” A2 und A3, “ein Zigarettenverkäufer und ein Arbeitsloser “.

Die Reaktionen auf die “Enthüllungen” von Paparaci fallen heftig aus:

Einer der bekannteren Anwälte Kosovos, Arianit Koci, sagt, wenn diese Information von Paparaci stimme, dann sei dies “der grösste Skandal im Nachkriegskosovo”. Und weiter: “Offenbar ist die rechtliche Sicherheit der Bürger von Kosovo nicht gewährleistet.”

Der oberste Staatsanwalt Aleksandër Lumezi hat kurzfristig seine Staatsanwälte zu einer dringenden Sitzung eingeladen und inzwischen angekündigt, es werde eine Untersuchung der Vorwürfe geben.

Der inzwischen pensionierte Staatsanwalt Sylë Hoxha hat dementiert, dass es eine solche Absprache gab. Driton Gashi, der seit seinem Abgang als Geheimdienstchef, Sekretär des präsidialen Büros vo Hashim Thaci war, schweigt.

Der stellvertretende Justizminister Blerim Sallahu (von Vetëvendosje) scheint an der Wahrheit der Enthüllung nicht zu zweifeln: “Statt Kriminelle zu verfolgen, sind die Staatsanwälte selbst in kriminelle Aktivitäten verwickelt, wie jetzt bewiesen ist.” Und seine Chefin, Justizministerin Albulena Haxhiu (von Vetëvendosje) verlangt nicht nur, dass ex-Staatsanwalt Sylë Hoxha zur Rechenschaft gezogen wird:
“Nach dem Skandal von Sylë Hoxha gegenüber Albin Kurti und Glauk Konjufca, sollten wir uns auch an die Tatsache erinnern, dass Sylë Hoxha auch der Staatsanwalt im Fall Astrit Dehari war. Es ist an der Zeit, dass diese Person strafrechtlich zur Verantwortung gezogen wird.”
Damit verweist die Justizministerin auf einen andern, nicht wirklich geklärten Fall: Der Tod des jungen, in der Schweiz aufgewachsenden Vetëvendosje-Aktivisten Astrit Dehari im Gefängnis 2016.

Sadri Ramabaja, der wegen der Vorwürfe, die sich inzwischen als offensichtlich falsch erweisen, fast 3 Jahre (2 Jahre und 10 Monate) im Gefängnis sass, stellt die neuste Entwicklung in ihre politische Dimension: “Jetzt beginnt die Demontage der Verbrechen des Staates”. Und: „Ich habe schon in meinem Schlusswort vor Gericht betont, dass das Verfahren gegen mich völlig erfunden ist und dass der wahre Regisseur (dieses Falles; AM) an der Spitze der Republik steht.”“Leider hielten er und die Führer des Geheimdienstes zusammen mit ihren Lakaien namens Sylë Hoxha oder Driton Gashi die Republik 20 Jahre lang als Geisel”.

Noch expliziter äussert sich (auf Facebook) Xhafer Shatri, der einzige Publizist, der sich auf seinem Blog unter dem Titel “Në kthetrat e Prontomafisë” (deutsch etwa: “In den Fängen der Prontomafia”) schon länger eingehend mit dem Fall “Syri i popullit” befasst hat:

“Dies ist nur der Anfang der Aufdeckung aller kriminellen und antinationalen Aktivitäten der Prontomafia-Bosse. Diejenigen, die die verleumderische Akte Syri i Popullit ausgeheckt haben, sind dieselben, die die grausamen Morde an Behadin Hallaçi und Astrit Dehari angeordnet und organisiert haben. Sobald es im Kosovo einen würdigen Chefankläger gibt, einen loyalen und unparteiischen Gesetzeshüter, werden einige von denen, die heute in Den Haag sind oder sich noch im Kosovo herumtreiben, in Dyz landen (Hochsicherheitsgefängnis in Nordkosovo; AM) und in Kosovo vor Gericht kommen. Denn, manchmal dauert es etwas mit der Gerechtigkeit, aber sie verzeiht und vergisst nicht.”

Wirklich neu sind die Enthüllungen von paparaci.live nicht. Sie sind vielmehr eine Bestätigung dessen, was schon der Verteidiger Sadri Ramabajas, Anwalt Ramiz Krasniqi, während dem Prozess, in seinem Buch “BALLË PËR BALLË ME KRERËT E SHIK-ut – Procesi politik ndaj Dr Sadri Ramabajës – Fasadë legale e krimit” und in einem ausführlichen Interview für diesen Blog Contextlink herausgearbeitet hat.

Es ist zu hoffen, dass mit der Aufarbeitung des Falles “Syri i Popullit” nicht nur die Direktverantwortlichen dieses Skandals zur Verantwortung gezogen werden, sondern damit eine Neuerung des gesamtem kosovarischen Justizapparates einhergeht, so dass sichergestellt ist, dass die Bevölkerung Kosovos beginnen kann zu glauben, dass “ihre rechtliche Sicherheit gewährleistet” ist.

Und die Aussichten stehen gut, dass die Behörden bei der Aufarbeitung der jüngsten Vergangenheit und der Neugestaltung des Justizapparates jetzt auch Unterstützung durch die Medien erhalten werden. Allein die aktuellen Veröffentlichungen von Paparaci zum Fall “Syri i popullit” sind zumindest ein Hoffnungsschimmer, dass die Journalisten in Kosovo jetzt Mut fassen und zu recherchieren beginnen – oder den Mut haben, das, was sie schon länger wissen zu publizieren.

Der Fall “Syri i popullit” könnte so schliesslich doch noch etwas Gutes haben: Als erster Schritt zur Aufarbeitung der jüngsten Vergangenheit, deren Erkenntnisse der Entwicklung und Umsetzung einer dringend nötigen Justizreform dienen. Und wenn dieser Prozess von Seiten der Behörden mit der nötigen Transparenz geführt und von Seiten der Medien mit der nötigen kritischen Unabhängigkeit und Unbefangenheit begleitet wird, wird er gleichzeitig auch dazu beitragen, das Vertrauen der breiten Bevölkerung in die Behörden und die Medien wieder zu stärken.

Und ein Letztes:
Wie lange dauert es wohl noch, bis Sadri Ramabaja definitiv freigesprochen und rehabilitiert wird – und für das immense Unrecht, dass ihm beigefügt wurde, vom Staat entschädigt wird?

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