Weihnachtswunsch. Bankrotterklärung.
Der Aargauer Regierungsrat Stephan Attiger hat einen „ganz grossen Weihnachtswunsch“ wie die Aargauerzeitung berichtet. Er wünsche sich eine Antwort auf die Frage: “Wer ist in der Schweiz verantwortlich für die Stromversorgungssicherheit?” Er habe diese Frage schon sicher 500-mal gestellt, sagt Attiger. „Es wäre cool, darauf eine Antwort zu erhalten.“
Attiger ist nicht irgendwer. Er ist Energieminister des “Energiekantons Aargau” (bis 2017 auch Verwaltungsrat des grössten Schweizer Stromproduzenten Axpo) und einer der einflussreichsten Energiepolitiker der Schweiz.
Sein Weihnachtswunsch ist definitiv die grösste Bankrotterklärung zur Schweizer Energiepolitik, die ich bisher wahrgenommen habe.
Während die Schweiz noch mit der Bewältigung der Corona-Pandemie ringt, rücken die Medien seit einigen Wochen die nächste grosse Katastrophe in die Wahrnehmung der Öffentlichkeit: eine Strommangellage. Das Bundesamt für Bevölkerungsschutz warnt schon seit Jahren davor. Sie stuft die Strommangellage als das grösste Risiko für die Schweiz, grösser als eine (nächste) Pandemie.
Dank Regierungsrat Attigers Weihnachtswunsch dürfen wir jetzt zur Kenntnis nehmen, dass man in der Schweiz nicht einmal weiss, wer für die Abwendung dieses grössten Risikos der Schweiz zuständig und verantwortlich ist.
Eben hat das Bundesamt für Energie aufgezeigt, wie real und akut die “neue” Bedrohung ist: schon ab 2025 müssen wir mit einer Strommangellage rechnen, wie eine vom Bund in Auftrag gegebene, neue Studie zeigt.
Eine Strommangellage erhöht aber nicht zuletzt auch die bereits heute existierende Gefahr eines Blackouts. Wer eine Vorstellung entwickeln will, was so ein Blackout für uns alle bedeutet, kann den auf vielen wissenschaftlichen Fakten beruhenden Roman „Blackout“ von Marc Elsberg lesen oder, ganz konkret für den Fall Schweiz, sich den Thementag „Blackout“ im SRF-Player ansehen.
Rein rechtlich ist die Frage die Regierungsrat Attiger mit seinem Weihnachtswunsch stellt, eigentlich klar: Für die Versorgung der Schweiz mit Strom ist „die Energiewirtschaft“ zuständig. So steht es im Energiegesetz (Art. 6 Abs. 2).
Defacto heisst das: Die Kantone sind zuständig. Denn die „Energiewirtschaft“, sprich die „Stromindustrie“, ist grossmehrheitlich im Besitz der Kantone (die Axpo sogar zu 100%).
Der Bund hat laut dem Gesetz bloss eine „subsidiäre” Rolle: “Er setzt die „Rahmenbedingungen, damit die Branche ihre Aufgabe optimal erfüllen kann“, wie das Bundesamt für Energie anlässlich der Veröffentlichung der erwähnten Studie in einem Faktenblatt mit dem Titel Stromversorgungssicherheit: Rollen und Verantwortlichkeiten in der Schweiz“ noch einmal betont hat.
Natürlich kennt auch Regierungsrat Attiger das Gesetz. Sein Weihnachtswunsch ist eine unverhohlene Kritik am Bund. Attiger ist kein Populist. Eine solch massive Kritik äussert er nicht unbedacht. Sein Weihnachtswunsch ist ein Alarm: Ganz Zentrales läuft falsch in der Energiepolitik der Schweiz.
Es ist wohl auch kein Zufall, dass praktisch gleichzeitig mit Attigers Weihnachtswunsch Axpo-CEO Christoph Brand in einem Interview mit der (aargauischen) “Schweiz am Wochenende” in die gleiche Kerbe schlug: Wenn das Land auf einen Versorgungsengpass zusteuert, müsse der Bund Massnahmen ergreifen – nicht etwa die Axpo oder die BKW. “«Seit der Teilmarktliberalisierung von 2009 hat die Schweiz ein System von Teilverantwortlichkeiten”, zitiert der Blick den Axpo-CEO. In diesem neuen Rahmen habe Axpo keinen Versorgungsauftrag.
Damit, konstatiert der Blick richtig, eskaliert der Streit zwischen dem Bund und den Stromproduzenten, respektive den Kantonen.
Wir steuern auf die grösste denkbare Katastrophe zu und die entscheidenden Player begnügend sich mit Lamentieren, gegenseitigen Schuldzuweisungen und der politischen Bewirtschaftung des Problems.
Wie wäre es, wenn die Kantone das Gesetz zum Nennwert und jetzt das Heft in die Hand nähmen. Statt einen frommen Weihnachtswunsch zu äussern, könnte Regierungsrat Attiger der Schweiz ein grosses Geschenk machen: Er könnte mit den Regierungskollegen der andern stromproduzierenden Kantone vereinbaren, dass alle ihren Stromproduzenten den Auftrag erteilen, bis in 10 Jahren die Stromversorgung der Schweiz auch im Winter zu gewährleisten, unabhängig von Stromimporten aus dem Ausland.
Regierungsrat Attiger müsste von „seiner“ Axpo künftig verlangen, dass sie das ganze zur Verfügung stehende Geld ab sofort in Projekte in der Schweiz zur Sicherung der Winterstromversorgung investiert; nicht mehr in PR-trächtige-Projekte im Ausland, welche keinen nennenswerten Beitrag zur Versorgungssicherheit der Schweiz leisten, wie auch Bundesrätin Sommaruga eben moniert hat.
Die Performance von Axpo-CEO Brand müsste sich künftig nicht mehr am im Ausland erwirtschafteten Gewinn messen, sondern am Erreichen des Ziels “Winterstromsicherheit” für die Axpo-Kunden in der Schweiz.
BKW-CEO Suzanne Thoma müsste von der Kantons- und der Stadtregierung Bern den Befehl erhalten, sich auf Investitionen in die Stromproduktion zu konzentrieren und nicht Geld in den Zukauf von Dienstleistungsunternehmen zu stecken, welche versorgungstechnisch nichts bringen.
Natürlich würden die CEOs der Stromproduzenten aufbegehren. Sie würden aufzeigen, was wirklich nötig wäre, um das geforderte Ziel der Winterstromsicherung zu erreichen. Sie würden nicht zuletzt über die „Rahmenbedingungen“ reden, welche ihre Handlungsfähigkeit einschränken und verhindern, dass sie den Auftrag überhaupt erfüllen können. Stichworte sind Umweltschutzauflagen, Technologie-Tabus, langwierige Bewilligungsverfahren, kostentreibende Normen, usw..
Die „Rahmenbedingungen“ der Stromproduktion der Schweiz setzt in erster Linie der Bund, der auch für die gesamte nationale Energiepolitik zuständig ist. Gemäss Gesetz müssen diese Rahmenbedingungen so festgelegt werden, dass “die Energiewirtschaft diese Aufgabe (die Versorgungssicherheit) im Gesamtinteresse optimal erfüllen kann.“
Es sind die Vertreter der Kantone, welche im nationalen Parlament die Rahmenbedingungen festlegen. Es liegt damit in der Macht der Abgeordneten der Kantone, ihren Einwohnern und Wählern auch künftig eine sichere Winterversorgung zu erhalten, indem sie die Rahmenbedingungen des Bundes so verändern, dass ihre Stromproduzenten die Versorgungssicherheit auch ohne die unsicheren Importe aus dem Ausland gewährleisten können.
Ausser Norwegen hat wohl kein Land in Europa eine bessere Ausgangslage als die Schweiz, seine Stromversorgung auch kurzfristig ausschliesslich aus eigener Kraft zu gewährleisten. Nicht nur wird der überwiegende Teil des Stroms bereits heute in der Schweiz selbst produziert; weil er zu über 90% aus den CO2-armen Energiequellen Wasser und Nuklear stammt, ist er erst noch klimafreundlich:
Anders als bei der Klimafrage oder der Corona-Pandemie, ist die Schweiz bei der Stromversorgung nicht auf internationale Kooperation angewiesen. Die Abwendung der grössten Bedrohung der Schweiz, ist einzig eine Frage unseres politischen Willens.