Beim Planen versagt
Gastbeitrag von Peter Frey, Aarau
«Gouverner, c’est prévoir!» Vorausschauende Vorbereitung ist alles! Aber Politiker verweigern sich genau dieser Vorbereitung. Sie zeichnen sich durch systematisches Unvermögen darin aus, langfristige Strategien zu entwickeln. Wer sich jedoch nicht vorbereitet, nicht vorausschaut, dem widerfährt das, was schon Benjamin Franklin erkannte: «If you fail to plan, you are planning to fail.» Wenn du beim Planen versagst, planst du zu versagen.
Natürlich gibt es auch in der Schweiz einige wenige Beispiele für vorausschauende Politik. Die Bundesräte Leon Schlumpf und später Adolf Ogi in den 1980er- und 1990er-Jahren etwa mit Bahn 2000 und NEAT. Oder Bundesrat Kaspar Villiger, als er 2001 mit der Schuldenbremse verhindern wollte, dass aktuelle Generationen nicht auf Pump leben und somit auf Kosten kommender Generationen konsumieren. Oder Bundesrätin Leuthard mit einer bis 2050 umzusetzenden Energiestrategie.
Aber an Beispielen fehlender Vorbereitung mangelt es auch in der Schweiz nicht:
- Am 2. Oktober 2001, um 16 Uhr 17, erlebte die Schweiz das Grounding der Swissair! Dabei kokettierte die Swissair schon 1968 in einem Inserat mit genau diesem Szenario. Auch kurz vor dem Crash, am 11. September 2001, wollte der damalige Swissair-Chef Mario Corti bei Bundesrat Villiger einen Termin, um auf die prekäre Lage aufmerksam zu machen. Erst am 17. September hatte der Finanzminister Zeit. Ein Krisengipfel fand erst weitere fünf Tage später statt. Andere Staaten – etwa die USA – hatten ihren Airlines bereits früher geholfen. – Beim Planen versagt!
- In der Europapolitik hangeln sich die politisch Verantwortlichen in Legislative und Exekutive seit bald 20 Jahren von Momentum zu Momentum.
Den Grundstein für eine Weiterentwicklung des Verhältnisses Schweiz-EU legte am 18. März 2002 eigentlich schon die aussenpolitische Kommission des Ständerates mit der Idee einer institutionellen Lösung für alle bilateralen Abkommen. Aber am 8. Dezember 2008 stellte der EU-Rat bereits fest, dass es zwischen dem bilateralen Recht und der Entwicklung des EU-Rechts zusehends Unterschiede gibt. Am 14. Dezember 2010 tönte es seitens des EU-Rates bereits klarer: Der bilaterale Weg sei an seine Grenzen gestossen! Am 20. Dezember 20212 sagte die EU, es gebe keine weiteren bilaterale Abkommen der bisherigen Art.
Ab dem 22. Mai 2014 wurde zwar verhandelt. Aber wie? Bern stritt sich mit Brüssel um Details wie Meldepflicht, flankierende Massnahmen oder Inländervorrang. Der «Reset»-Knopf, mit dem der aktuelle Aussenminister die Blockade auflösen wollte, entpuppte sich immer mehr als veritabler Rohrkrepierer. Eine übergeordnete Strategie hatte der Bundesrat nie! – Beim Planen versagt! - Bei der Bekämpfung der Corona-Pandemie lagen Analysen und Empfehlungen seit 2014 nach einer gesamtschweizerischen Sicherheitsverbundsübung (SVU) vor. 2018 wies ein Gutachten auf den Mangel an Spitalbetten hin: 4250 Betten!
Ende 2018 wurde das Ethanol-Pflichtlager aufgelöst. 2019 schrieb das Bundesamt für wirtschaftliche Landesversorgung (BWL): «Im Fall einer Pandemie wird der Mehrbedarf an Desinfektionsmitteln weltweit ansteigen und damit auch der überregionale Bedarf an Ethanol.» 2020, bei Ausbruch der Corona-Pandemie, fehlte es unter anderem an Betten und an Ethanol. – Beim Planen versagt! - In der Klimapolitik lassen sich heute ähnliche Verhaltensmuster beobachten.
Seit den 1990er-Jahren belegen Schweizer Forscher mit Messungen im «Swiss Camp» in Grönland die Folgen des Klimawandels.
Am 30. Oktober 2006 präsentierte der damalige Chefökonom der Weltbank Nicholas Stern im «Stern Review on the Economics of Climate Change» die nächste Hiobsbotschaft: Die Schäden des Klimawandels würden 20% oder mehr des globalen Bruttoinlandsprodukts (BIP) betragen. (2020 betrug das weltweite Bruttoinlandsprodukt (BIP) 84’000 Milliarden US-Dollar. Also Schäden in der Höhe von rund 17’000 Milliarden US-Dollar – das Schweizer Jahres-BIP beläuft sich 2020 auf rund 750 Milliarden.)
Am 8. Dezember 2010 verwies Bundespräsidentin Doris Leuthard vor der UNO-Klimakonferenz auf den Stern-Report: «Etwas tun kostet. Warten, bis andere etwas tun, kostet mehr. Nichts tun kostet sehr viel mehr.» 2021 rechnen die Versicherer allein nach den Hochwassern in Deutschland mit Schäden in Höhe von weit über 10 Milliarden Euro.
In der Schweiz schraubt die Legislative so lange an einem CO2-Gesetz herum, bis es keine Mehrheiten mehr findet. Dafür unterzeichnet die Exekutive an der Weltklimakonferenz in Glasgow 2021 grossartig Klimaschutzabkommen – mit Peru, Ghana, Senegal oder Vanuatu – immerhin! – Beim Planen versagt! - Mit der Energiestrategie 2050 wurde zwar eine der wenigen Langfrist-Strategien erstellt. Aber bei der legislatorischen Umsetzung orientiert sich der Schweizer lieber am kurzfristigen Zeithorizont. Dies, obwohl das Bundesamt für Bevölkerungsschutz (BABS) in der Verknappung des Stroms eine der grössten Gefahren für die Schweiz sieht; grösser als die Corona-Pandemie.
Gemäss Bundesamt für wirtschaftliche Landesversorgung (BWL) (Versorgungsbericht 2017 bis 2020) sind die Sicherheitsmargen im Schweizer Stromnetz nicht auf Krisen ausgerichtet. Dies unter anderem, weil heute die Verantwortung auf rund 600 Elektrizitätsversorger verteilt ist.
Zwar ist für die Krise vorgesorgt. Der Bund mit Gesetzen und Verordnungen etwa über die Elektrizitätsbewirtschaftung oder die Einschränkung der Stromverwendung. Der Verband Schweizerischer Elektrizitätsunternehmen (VSE) mit der Krisenorganisation OSTRAL (Organisation für Stromversorgung in Ausserordentlichen Lagen). Aber beim langfristigen Umbau der Energieversorgung hin zu erneuerbaren Energieträgern verliert man sich im Detail!
Hemmend wirken sich schleppende aufwendigen Planungs- und Genehmigungsverfahren und eine ausgebaute Kaskade von Möglichkeiten für Einsprachen aus. Windräder oder Wasserkraftwerke scheitern am Natur- und Landschaftsschutz, Luftwasser-Wärmepumpen am kommunalen Grenzabstand. Und: Mit Europa verfügt die Schweiz über keine vertraglich abgesicherte Basis für den internationalen Stromhandel. – Beim Planen versagt!
Die Politik ist offensichtliche nicht in der Lage, eine langfristige Strategie mit vorausschauenden Szenarien zu entwickeln. Die Gründe dafür liegen im System und in der Natur des «homo politicus»:
Für die Exekutive läuft die strategische politische Planung alle vier Jahre mit Legislaturplan und Legislaturfinanzplan ab. Aber bereits 2009 hat die Geschäftsprüfungskommission des Nationalrates festgestellt: Es besteht Handlungsbedarf für eine klare Ausrichtung und Konzeption.
Die Legislative erliegt dem Diktat der periodisch auftretenden Wieder-Wahltermine. Getrieben von den sozialen Medien und dem damit einhergehenden Hang zur Selbstdarstellung konzentriert man sich auf den Moment-Erfolg. Schliesslich will niemand die eigenen Wahlchancen in vier Jahren mit Themen schmälern, die a) in einer fernen Zukunft liegen oder b) heute niemanden interessieren.
Damit «gouverner c’est prévoir» nicht zum frommen Wunsch verkommt, braucht es folgende Voraussetzungen:
- Die Bereitschaft, aktiv eine Führungsrolle und Verantwortung zu übernehmen. Statt zu führen, wird heute aber schwergewichtig geprüft und verwaltet. Statt Verantwortung zu übernehmen, wird mit dem Hinweis auf den Föderalismus und die direkte Demokratie vor allem delegiert – nach unten.
- Die Bereitschaft, langfristige Strategien zur Bewältigung der drängenden Probleme zu entwickeln; Klima- und Energiepolitik, Verkehr- und Infrastrukturpolitik, Gesundheits- und Sozialpolitik. Beton gegen Überschwemmungen, Subventionen für erneuerbare Energieträger, Beihilfen für Neu-Rentner – das alles ist Symptombekämpfung! Antworten für die Zukunft findet man so nicht.
Um den Klimawandel – als Beispiel – ernsthaft zu stoppen, braucht es eine vernetzte, über die einzelnen Politikbereiche hinausgehende Strategien von Verkehrs-, Energie-, Umwelt- und Naturpolitik. Die taktisch-legislativen Umsetzungen lassen sich dann immer noch in den einzelnen Sektoren abwickeln. Die zuständigen Player müssen dringend aus ihren departementalen Silos herausklettern und die themenspezifischen Scheuklappen ablegen.
Ändert die Politik ihr Arbeitsweise und ihre Bereitschaft nicht, bleiben wir im 19. Jahrhundert des französischen Publizisten und Politikers Émile de Girardin hängen: «Tout le monde parle de progrès, et personne ne sort de la routine!»