Afrika, Schweiz

Heini Wolleb im Kongo

Posted on Januar 2, 2018 by Andrea Mueller

Heini Wolleb, eidgenössischer Held der Schlacht bei Frastanz 1499

Ich komme eben zurück aus dem Kongo (DRC). Dort habe ich viel an Heini Wolleb gedacht. Er war zwar nie in Afrika, aber ich bin überzeugt, ihm käme Einiges im heutigen Kongo vertraut vor:

Heini Wolleb ist in der Schlacht von Frastanz bei Feldkirch im Voralberg 1499 den „Heldentod“ gestorben. Er war ein Haudegen aus dem Urserental, mal Freischarenhauptmann, mal Söldnerkommandant im Dienst wechselnder Auftraggeber. Seine Soldaten waren zum grossen Teil junge Burschen aus der Innerschweiz: ungehobelt, skrupellos und gewalttätig wie ihr Anführer.

Im Vorfeld meiner Reise ins Grenzgebiet zwischen Ruanda und dem Kongo anfang Dezember 2019 habe ich mich wiedereinmal intensiv mit der politischen, sozialen und militärischen Situation in den Ostprovinzen der Demokratischen Republik Kongo (DRC), dieses riesigen Landes im Herzen Afrikas, auseinandergesetzt.
Vor Ort in den Städten Bukavu und Goma konnte ich ausführliche Gespräche mit einer Reihe von ehemaligen Kämpfern  führen. Immer wieder sind mir dabei die Alten Eidgenossen in den Sinn gekommen.
Abends im Hotel habe ich, wie meist, im Internet recherchiert bin ich schliesslich auf die Publikation des Basler Mittelalterhistorikers Werner Meyer  „Krieg und Frieden“ aus seinem Buch „Hirsebrei und Hellebarde“ gestossen, die ich von früher in Erinnerung hatte:
Es ist frappierend, wieviele Parallelen es zwischen der Welt der Krieger in der Zeit der Alten Eidgenossen Ende Mittelalter und denen im Kongo in unserer Zeit heute gibt.

Die Situation im Ostkongo
Der Krieg im Kongo mit Ausgangs- und Schwerpunkt in den Ostprovinzen (Süd- und Nordkivu, Ituri) dauert inzwischen mehr als 20 Jahre – mit unterschiedlicher Intensität. Wieviele Menschenleben er bisher gekostet hat, ist nicht genau bekannt. Die Rede ist von vier bis sechs Millionen. Zurzeit sind 4,1 Millionen Menschen „displaced“; mehr als in Syrien.
In diesem Jahr hat der Konflikt wieder an Intensität zugenommen. Inzwischen gibt es allein im Ostkongo rund 120 „Rebellen“- Organisationen unterschiedlichster Art. Warum und wofür sie kämpfen, ist … komplex. Der von den westlichen NGO via die Medien bei uns verbreitete Narrativ „Kampf um die Kontrolle der Rohstoffe“, greift auf jeden Fall viel zu kurz. Leuten, die wirklich an der Thematik Interessiert sind, empfehle ich z.B. Jason Stearns: „Background …“ und, ganz neu, den „Kivu Security Tracker: The Landscape of Armed Groups in Eastern Congo“.

Die einleuchtendste Erklärung, warum sich die Situation im Kongo seit Jahren nicht wirklich zum Bessern verändert, ist das Versagen des Staates, das Fehlen funktionierender staatlicher Institutionen und nicht zuletzt das fehlende Vertrauen der Bevölkerung in die Institutionen und in die Repräsentaten dieses Staates.

Der Kongo und speziell der Ostkongo entspricht dem, was man bei uns im Westen einen „Failed State“ nennt: Ein Staat, der die drei wichtigsten staatlichen Funktionen/Aufgaben nicht erfüllen kann oder will: Sicherheit, Wohlfahrt und Rechtsstaatlichkeit.

Eine erste Idee, was das in der Praxis heisst, erhält man, wenn man vom sehr ordentlichen Ruanda mit seinen sehr guten Strassen über die alte Grenzbrücke bei Cyangugu über den Ruzizi-Fluss in die kongolesische Provinzhauptstadt Bukavu fährt, die unmittelbar jenseits der Brücke am Südende des Kivusees liegt. Die vielleicht zwei Kilometer lange Strasse von der Grenze ins Zentrum Bukavus ist in einem katastrophalen Zustand. „Wie ein Schweizer Käse – voller Löcher“, sagt mein kongolesischer Kontaktmann Alphonse, der mich mit dem 4×4-Auto seiner aus der Schweiz gesponsorten NGO am Grenzübergang abgeholt hat, während er völlig entspannt versucht, wenigsten den grössten und tiefsten, aufgrund des häufigen Regens mit lehmigem Wasser gefüllten Löchern auszuweichen. Der Vergleich ist eine Beleidigung für den Schweizer Käse, denn der besteht im Gegensatz zur Hauptstrasse in Bukavu nicht NUR aus Löchern.

Alphonses entspannte Haltung der schlechten Strasse gegenüber ist typisch für viele Kongolesen: Sie empfinden die Situation als ziemlich „normal“, vorallem aber haben sie gelernt, irgendwie damit umzugehen.

Die vielen nicht-staatlichen bewaffneten Einheiten, die es in der Region gibt, sind eine Antwort auf die Unfähigkeit oder Unwilligkeit des Staates, die Sicherheit im Land zu gewährleisten.
Jason Stearns formuliert es in seinem Background für den Nord-Kivu so:

The armed groups that have emerged in North Kivu have features in common, but there is no comprehensive theory that explains them all. They draw on three sources of instability: local, regional, and national. The Congolese state is decrepit and partial to private interests. It has neither the rule of law to guarantee property rights nor the force of law to suppress armed rivals. This weakness reinforces the belief that the only way of protecting property and individual freedoms is through armed force.

Unstaatliches Kriegertum

Das Fehlen einer staatlichen Instanz, welche fähig und willens ist, eine allgemein anerkannte Rechtsordnung durchzusetzen, war auch charakteristisch für die Alte Eidgenossenschaft am Ausgang des Mittelalters in der heutigen Schweiz, wie Werner Meyer in  „Krieg und Frieden“ schreibt. Als eine Art „gewaltsame Selbsthilfe“ füllten eine Vielzahl von privaten Kampfgruppen das Vakuum. Meyer bezeichnet sie als „unstaatliches Kriegertum“.

Die in der Tagsatzung lose zusammengeschlossenen „Orte“ der Alten Eidgenossenschaft verfügten über keine ordentlichen Polizeikräfte und schon gar nicht über eine eigene „Armee“. Der „Ort“, also zum Beispiel der Stand Uri, konnte zwar in Kriegszeiten auf die Loyalität der nicht-staatlichen, „privaten“ bewaffneten Einheiten, wie diejenige von Heini Wolleb, zählen, aber die Obrigkeit hatte sie nicht wirklich „unter Kontrolle“. Diese kriegerischen Gruppierung handelten auch (wie u.a. Meyer berichtet) frei von „staatlichen“ Interessen nach eigenem Gutdünken und Bedarf. Sie fochten eine Vielzahl von privaten Fehden, erfanden vielfältige Vorwände, um sich in kleinen oder grösseren Gruppen mit Waffengewalt zu bekämpfen oder schlugen sich schlicht zum eigenen Vergnügen.
Heini Wolleb verdingte sich und seine Kämpfer auch häufig als Söldner für die verschiedensten „auswärtigen“ Potentaten wie den französischen König oder den Herzog von Mailand.


Friede kein absoluter Wert

Frieden gab es in der Alten Eidgenossenschaft am Ausgang des Mittelalters selten. Es herrschte ständige Unsicherheit basierend auf einer „kriegerische Gesinnung, die im breiten Volk verwurzelt war“ verbunden mit einer „stetigen Bereitschaft Einzelner und ganzer Gruppen zur Gewalttätigkeit“, so dass sich „Eigengesetzlichkeiten ausserhalb der staatlichen Normen und Bedürfnisse“ entwickeln konnten, wie Meyer gestützt auf viele erhaltene Quellen schreibt.

Meyer vertritt eine besonders spannende These (und damit ist er unter den Forschern nicht allein) : Krieg war im Mittelalter gar nicht unerwünscht. Wenn der Krieg aber „gar als ehrenhaft gilt und sogar Ruhm und Reichtum einbringen kann, verkörpert der Friede keinen absoluten Wert, weder ethisch noch politisch oder rechtlich.“

Ob diese These auch für die Ostprovinzen des Kongo heute gilt, kann ich nicht beurteilen. Immerhin kann man feststellen, dass die Situation von den Menschen als „normal“ empfunden wird, zumal ja nicht ständig und überall kriegerische Handlungen stattfinden. Sie können aber jederzeit und fast überall aufflammen.


Kriegskultur

Ich hatte im Dezember im Kongo die Gelegenheit, mit mehreren Veteranen der grossen Kriege ind er Region in den 1990er Jahren ausführliche Gespräche über ihr Kriegerleben zu führen. Einige kämpften in Einheiten der regulären kongolesischen Armee oder waren Krieger in lokalen „Rebellen“-Verbänden (häufig Mayi-Mayi genannt).
Die meisten dieser Männer sind bereits als Jugendliche in den Krieg gezogen – „Kadogo“ („Kleiner“ auf Swahili) nennt man die Kindersoldaten im Kongo.

Die Gewalt dominierte den Alltag dieser jungen Männer auch ausserhalb der Kämpfe. Es herrschten strenge Hierarchien in der Gruppe und auch unter Kameraden eine gnadenlose Hackordnung. Darüberhinaus waren die Kämpfer permanent unter Druck, den ungeschriebenen Regeln und Normen der Männergesellschaft zu entsprechen, um sich den Respekt der Kameraden zu erwerben und ständig aufs Neue zu erhalten.
Kriegerischen Handlungen unternahmen die Rebelleneinheiten wenn immer möglich nur gegen hoffnungslos unterlegene Gegner oder gänzlich Wehrlose. Die Kriegs-„Kultur“ verlangte von den Kämpfern aber, dass diese Aktionen mit grosser Brutalität geführt werden. Der schlechte Ruf war auch ein Propagandamittel, das potentielle Gegner abschrecken sollte. Lustvolle Gräueltaten an den geschlagenen „Feinden“ galten als Beleg der Mannhaftigkeit der Kämpfer und stärkten den Zusammenhalt der Gruppe.

Ich habe jeweils nach dem Treffen mit den ehemaligen Kämpfern eine Art Gedankenprotokoll der Gespräche verfasst. Eines davon haben ich einem guten Freund in der Schweiz geschickt. Er hat eine völlig „normale“, abwehrende Reaktion gezeigt: Er möge sich gar nicht wirklich damit beschäftigen und: „… irgendwie sind das für mich keine Menschen.“

Leider kann ich Heini Wolleb und/oder einige seiner Mitstreiter nicht mehr interviewen, aber mein Freund wäre wohl schockiert, wenn er erfahren würde,  dass die Geschichten der Krieger der Alten Eidgenossen in Vielem sehr ähnlich geklungen hätten, wie die ihrer Kollegen aus dem Kongo heute.

Zunächst muss man wissen, dass auch die „Alten Eidgnossen“ meist sehr jung waren (anders als auf den Heldenbilder, die meist aus späterer Zeit stammten, dargestellt): „Die Masse der waffenfähigen Mannschaft bestand aus jungen, meist unverheirateten Burschen im Alter von 14 bis 20, allenfalls 25 Jahren.“ Sie waren häufig in „Knabenschaften“ organisiert (siehe u.a. Döbeli „Volkskultur S. 20 oder Padrutt „Staat und Krieg …“).

„Kriegerische Unternehmungen“, schreibt Meyer, „erwuchsen aus ihren eigenen Wertvorstellungen und Verhaltensnormen heraus: Viehraub, Sachbeschädigung und Terror übte man in der näheren und weiteren Nachbarschaft, während man das eigene Gebiet gegen analoge Aktionen von aussen zu schützen hatte.“
Es waren selten staatspolitische Motive, die Anlass zum Krieg boten, sondern irrationale: 
„Verletzter Stolz, Geltungssucht, Selbstbestätigung und traditionelle Feindschaften mischten sich mit Beutegier, Zerstörungswut und blinden Hassausbrüchen.“  
(Alle, auch die nachfolgenden Zitate zu den Eidgenossen gemäss Meyer)


Berserkerzustand 

Ganz ähnlich wie bei den Alten Eidgenossen ist bei den „Rebellen“ im heutigen Kongo auch die häufige Steigerung der „soldatischen Unerschrockenheit zur blinden, todesverachtenden Kampfeswut“ an der Tagesordnung.

Die eidgenössischen „Knechte“ wurden von irritierten Beobachtern auch schon mal als „tolle Hunde“ (im Sinn von tollwütig) bezeichnet und es wird berichtet, dass ihre „Raserei“ sie „für die stärksten Schmerzen unempfindlich machte“.
Die moderne Psychologie nennt dies den „Berserkerzustand“. Der Ausdruck stammt von den „Berserkern“ der alten Wikinger, welche im Kampf in einer Art Trancezustand übermenschliche Kräfte entwickelt haben sollen und, weil sie sich für unverwundbar hielten, mit einer heldenhafte Todesverachtung kämpften. In allen Kriegen hat man diesen Zustand, der meist sehr rasch tödlich ist, bei Soldaten beobachtet. (z.B. im Vietnamkrieg. Der US-Militärpsychologe Jonathan Shay zeigt in seinem erschütternden Buch „Achilles in Vietnam“ frappiernden Parallelen des modernen Kriegs zu den Kriegen der alten Griechen).

Im Kongo glaubten (und glauben heute noch) einige Mayi-Mayi-Rebellen, sie seien unverwundbar. „Mayi“ ist das Swahiliwort für „Wasser“. Die Kämpfer glauben, dass das magische Wasser, mit dem ihr Medizinmann sie bespritzt, sie gegen Gewehrkugeln immun macht.

Es liegt nahe, davon auszugehen, dass auch Heini Wolleb 1499 in seiner letzten Schlacht auf den Berghängen oberhalb Frastanz in diesem Berserkerzustand war und sich für unverwundbar hielt, als er sich den gegnerischen Schützen absichtlich als leichtes Ziel darbot.
Weil die Schützen damals immer gemeinsam und gleichzeitig eine Salve feuerten und wegen der primitiven Technik ihrer Büchsen gezwungen waren, nach dem ersten Schuss nachzuladen, konnte Heinis Mannschaft diesen Moment nutzen, um sich auf den kurzzeitig wehrlosen Feind zu stürzen – über den sterbenden “Helden” hinweg. (Eine heroisierende Darstellung von Wollebs Tod bei Hans Kriesi hier).


Gräueltaten

Nicht zuletzt finden sich in historischen Dokumenten zur Geschichte der Alten Eidgenossenschaft auch eine stattliche Zahl von Dokumenten, die Gräueltaten belegen, die dem gleichkommen, was wir im heutigen Kongo als „unmenschlich“ empfinden.
„Ekstatische Kampfeswut machte vor nichts halt“, schreibt Meyer. „Auf verletzte Gegner wurde, wie Schädelfunde aus Massengräbern beweisen, blindwütig mit schweren Hiebwaffen immer wieder eingeschlagen, und an Gefangenen und Gefallenen verübte man die unglaublichsten Grausamkeiten.“
Gefangene haben die Alten Eidgenossen allerdings selten gemacht und wenn, dann – genau wie die „Rebellen“ im Kongo heute – um Lösegelder zu erpressen.
Die meisten Toten gab es in den Schlachten des ausgehenden Mittelalters nicht im Kampf Mann gegen Mann, sondern wenn der Feind schon geschlagen war und sich zur Flucht wandte. Dann fanden regelmässige üble Massaker und Grausamkeiten statt: „Selbst rituelle Menschenfresserei, etwa Verspeisen des Herzens oder Trinken des Blutes, ist bezeugt.“

Eine der berühmtesten Szenen ist der Tod des Zürcher Bürgermeisters Rudolf Stüssi NACH der Schlacht von St. Jakob an der Sihl 1443: Man „hängte nach eidlichen Zeugenaussagen die Leiche des Zürcher Bürgermeisters Stüssi auf, schnitt Herz und Eingeweide heraus, salbte sich mit dem Fett (Stüssis Bauchfett, ndlr) die Schuhe und steckte dem Toten in Hintern und Nase Pfauenfedern zur Verhöhnung des österreichischen Parteiabzeichens.“
Andere Berichte erzählen, die Schwyzer Schergen hätten schliesslich auch noch Stüssis Herz gegessen.

Rache als zentrales Motiv

Zentraler Antrieb für Fehden und Kriege im Mittelalter war die Rache. Blutrache war noch fest auch in der Kultur der Alten Eidgenossen verwurzelt. Sie war Ausdruck eines sehr lebendigen Ahnen- und Totenkults: Nur wenn der Tod der Eigenen mit dem Blut der Andern gesühnt war, konnten die Toten wirklich Ruhe finden.
Anlass zur Rache konnten bei den Alten Eidgenossen schon banale Anlässe bilden: z.B. Beleidigungen, Schmähreden oder was auch immer als ehrverletzend empfunden werden konnte.

Rache ist auch das zentrale Motiv, das die Ex-Kämpfer im Kongo als Anlass für ihre kriegerische Handlungen nennen: Persönliche oder kollektive Rache (z.B. für frühere Massaker verfeindeter Gruppen, Stämme oder Ethnien). Weil aber jeder Tod die Gegenseite wieder zur Rache verpflichtet, kommt eine scheinbar unendliche Gewaltspirale in Gang: Jede kriegerische Auseinandersetzung birgt in ihrem Kern schon die nächsten kriegerischen Aktionen.

Um diese Gewaltspirale gar nicht erst in Schwung kommen zu lassen, griffen die alten Eidgenossen bei ihren Fehde- und Kriegsaktionen zuweilen zu einem schauerlichen Mittel: „Die Ermordung von Kindern und schwangeren Frauen sollte verhindern, dass eine kommende Generation Rache nehmen könnte.“

Fazit 1: Primitive Rückständigkeit?
Die Erkenntnis der Parallelen der Kriegskultur der Alten Eidgnossenschaft und des Ostkongo heute könnte als Bestätigung einer rassistoiden These dienen: „Die sind halt rückständig primitiv in Afrika.“ Es möge ja sein, könnten solche Stimmen argumentieren,  dass es im Raum der heutigen Schweiz vor langer Zeit einmal ähnliche Verhältnisse oder zumindest vergleichbare Phänomene gegeben habe wie im Kongo heute, entscheidend aber sei, dass wir diese längst überwunden hätten. Wir (Europäer) seien eben zivilisierte Menschen, sie (die Afrikaner) primitiv und unterentwickelt.

Das ist natürlich (eben rassistoider) Bockmist. Alle Kriege dieser Welt haben die dunkle, gewalttätige und gewaltliebende Seite der Menschen (dazu u.a. C. G. Jung) immer und immer  wieder zum Vorschein gebracht. Von den alten Griechen über die Wikinger und das europäische Mittelalter bis zu den grossen „Weltkriegen“ in der ersten Hälfte des letzten Jahrhundert, von Vietnam über den Balkan gestern bis in den Mittleren Osten und Afrika heute. (und in die Ukraine oder nach Gaza; Ergänzung AM 12/2023).

Wir brauchen aber gar nicht bloss auf die Kriege zu schauen, um zu erkennen, dass diese von uns gerne als „unmenschlich“ oder „abartig“ empfunde Gewaltkultur eben sehr menschlich ist und unserem Naturell entsprechend in uns allen steckt. Zum Glück wird dieses Naturell meist von unserer „zivilisierten“ Kultur überdeckt und dominiert. Doch immer wieder wird uns auch in unserer „zivilisierten Welt“ mit Schrecken vor Augen geführt, dass diese Schutzschicht sehr dünn ist:

Wenn ich zum Beispiel das Soziotop der Hooligans im Umfeld der Fussballvereine in Europa sehe und erlebe, scheinen mir die Parallelen zu den Knabenschaften des Mittelalters offensichtlich.
Die jüngste Episode bei „meinem“ Heimverein: der „Fahnenklau“ beim Spiel Basel – Sion  Ende November. Das ist primitivste Knabenschafts- und Kriegskultur. Und wie die „Fankultur“ zu kriegerischen Zwecken umfunktioniert werden kann, weiss man aus den Kriegen im Balkan und in Ruanda/Kongo: Die gefürchtetste und kriminellste private Miliz des Balkankriegs, die Arkan-Tigers, sind aus der Fangruppierung des Fussballvereins Roter Stern Belgrad enstanden. Ganz ähnlich war auch die Jugendmiliz Interahamwe in Ruanda, deren Verbände die schlimmsten Schlächter des Völkermords an den Tutsi in Ruanda 1994, aus der Fangruppe des Fussballverein „Loisirs „ in Kigali entstanden.

Oder wenn ich heute von den gewalttätigen Schlägereien und Bandenkämpfen in der Stadt Basel, in der ich lebe, lese, frappiert mich die Parallele zu Meyers Beschreibung der marodierenden Burschenschaften im ausgehenden Mittelalter:
„Rücksichtsloser Mutwille, vor allem unter jugendlichen Raufbolden, von denen einer den anderen zu übertrumpfen versuchte, war zweifellos eine Hauptquelle der alltäglichen Schlägereien. Abends machten in den Städten Gruppen von Bezechten Gassen und Tavernen unsicher, verprügelten Passanten, die ihnen nicht passten, schmissen Scheiben ein, verwüsteten Bordelle und Tavernen und trugen untereinander, um sich selbst zu bestätigen oder um irgendeiner aufgelesenen Dirne zu imponieren, blutige Raufhändel aus.“

Fazit 2: Lassen wir die Kongolesen eine Lösung finden
Die Situation im Kongo heute nennen Politologen „hybride politische Ordnung“, in der ein staatliches Gewaltmonopol fehlt, wo „traditionelle“ und „moderne“ Institutionen gleichzeitig existieren und sich konkurrenzieren, aber doch eine gewisse Ordnung gewährleisten. Vielleicht könnte man auch die Situation in der Alten Eidgenossenschaft als hybride Ordnung bezeichnen.

Der kriegerische Zustand im Ostkongo dauert inzwischen mehr als 30 Jahre. Der Westen hat sich in vielfältiger Weise darum bemüht, diesen Zustand beenden zu helfen: Mit humanitärer Hilfe, friedensbildenden Massnahmen und – nicht zuletzt – mit der grössten bewaffenten UNO-„Friedens“-Mission, die es je gegeben hat. „Was hat es gebracht?“, fragte mich ein einheimischer Freund in Goma, der für eine deutsche NGO arbeitet, provokativ – und beantwortete die Frage gleich selbst: „Gar nichts“. Für ihn ist klar: „Lasst uns in Ruhe. Eure Lösungen haben nichts gebracht. Es kann nicht funktionieren, wenn ihr uns Lösungen aufzwingt, die aus eurer Welt stammen.“
Dazu gehört nicht zuletzt unsere (westliche) Vorstellung von Staat, von staatlichen Institutionen und Mechanismen. Jetzt sollen z.B. im Kongo wiedereinmal Präsidentschaftswahlen stattfinden, weil gemäss unseren Regeln, welche die Kongolesen nach dem Sturz des vorletzten Dikators Mobutu brav übernommen haben, die Amtszeit des jetzigen Diktators abgelaufen ist. Dabei wissen alle, dass diese Wahlen keine Lösung und keinen Neuanfang für den Kongo bringen werden, sondern nur neues Chaos und Gewalt.

Es ist wohl etwas platt, wenn man glaubt, der Kongo könne aus der Geschichte der Schweiz lernen. Aber zumindest sollten wir aus unserer eigenen Geschichte lernen: Die Alten Eidgenossen hätten sich eine Einmischung, wie wir sie heute im Kongo und in vielen andern Region Afrikas praktizieren, nicht bieten lassen.

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