Streit um EU-Taxonomie: „Ein alter Kulturkampf“
„Man reibt sich die Augen: die EU-Kommission will die schon totgesagte Atomkraft künftig als nachhaltig bewerten.“
So eröffnete Marc Lehmann von Radio SRF sein „Tagesgespräch“ am 12. Januar mit dem deutschen Energie- und Klimaexperten Georg Zachmann.
Ich rieb mir auch die Augen, als ich das Gespräch im Auto hörte. Oder besser: ich traute meinen Ohren nicht, ob dem einseitigen, offenbar blind machenden Fokus auf die Atomenergie bei Radio SRF.
Tatsächlich hat ja die EU-Kommission die Absicht, nicht nur Strom aus AKWs, sondern auch aus Gaskraftwerken in ihrer Taxonomie als nachhaltig und damit finanziell förderbar einzustufen.
Hallo, SRF: Um was ging es schon wieder beim Klimaschutz? Ich hatte gemeint, oberstes, dringendes Gebot sei, die CO2-Abgaben zu reduzieren und deshalb aus den fossilen Energieträgern auszusteigen.
Dass die EU jetzt den fossilen Energieträger Gas fördern will, scheint euch aber nicht zu stören. Oder hat euch der Schock, dass die Atomkraft mit ihrer praktisch CO2-freien Energie vielleicht doch nicht so tot ist, wie ihr gehofft habt, blind gemacht für die Essenz der Thematik?
Der von mir sehr geschätzte Interviewer Marc Lehmann hat sich im Tagesgespräch zwar immer wieder bemüht, einen „neutralen“ Standpunkt einzunehmen, aber allein schon seine Wortwahl war entlarvend. So sprach er zum Beispiel ständig von der „vermeintlich“ nachhaltigen Atomenergie.
Der Experte Zachmann sollte die Frage beantworten: Ist die Atomenergie nachhaltig? Doch er wollte sich nicht wirklich klar dazu äussern. Seine Hauptbotschaft war eine andere:
Diese EU-Taxonomie sei gar nicht wirklich relevant für die Dekarbonisierung. Die aktuell (in den deutschsprachigen Medien) geführte Debatte sei „der alte Kulturkampf“ über den richtigen Energiemix, respektive über die Nutzung der Atomenergie.
Doch Gesprächsleiter Lehmann wollte diese mehrfach angebotene Thematik nicht aufnehmen.
Vielleicht, das ist meine Unterstellung, weil er dann über seine eigene kulturell-politische Prägung und die seit vielen Jahren einseitig nuklear-kritische Berichterstattung von SRF reden müssen.
Dies wäre allerdings eine höchst spannende und nötige Diskussion gewesen:
Meine Generation, die 1950er plus, wurde stark politisch-kulturell geprägt von der anti-AKW-Bewegung. Wobei die Ablehnung der Nukleartechnologie nur das offen sichtbare Zeichen einer Haltung war, die weit über die AKW-Opposition hinausging: ein “linkes” Lebensgefühl um Themen und Werte wie Solidarität, Gleichheit, (neu) Naturschutz, die “Grenzen des Wachstums” verbunden mit einer Industrie-, Technologie- und Risikoaversion und einem mehr oder weniger reflektierten Anti-Kapitalismus.
Diese Haltung haben wir als Lehrer, Journalisten, Politiker oder häufig einflussreiche Mitglieder der staatlichen Verwaltung den folgenden Generationen weitervermittelt (an die Marc Lehmans) und in Gesetzen und Massnahmen umgesetzt. Vieles von dieser, unserer “Kultur” glaube ich bei der Klimajugend heute unter Begriff “System Change” wieder zu erkennen.
Die atomkritische Haltung wurde bis vor kurzem meist auch in bürgerlichen Kreise geteilt. Im deutschen Kulturraum war die Meinung zur Atomfrage gemacht. Man glaubte genug zu “wissen” und niemand war an weiterführenden, höchstens störenden Informationen interessiert: die Atomenergie galt/gilt als Hochrisikotechnologie – eine AKW-Katastrophe als ultimative Apokalypse. Die irrationale Angst vor der Radioaktivität ist heute Allgemeingut.
Dass jetzt die “böse”, “so gut wie tote” Atomenergie in der Klimafrage plötzlich wieder salonfähig und Teil der Lösung der Klimaproblematik sein soll, irritiert viele. Das ist durchaus nachvollziehbar.
Ich erwarte aber von SRF, und nicht zuletzt von den Machern einer Sendung mit dem Anspruch des Rendez-am-Mittag und seinem Tagesgepräch, dass sie über ihren Schatten springen und ihren Hörern einen unvoreingenommenen Zugang zur Thematik der Nutzung der Atomenergie vermitteln.
Das heutige Tagesgespräch hat den Geist der Vergangenheit geatmet.
PS:
Die anti-AKW-Aktivisten in der neuen deutschen Regierung können zufrieden sein: selbst das Schweizer Leitmedium SRF verbeisst sich bei der Diskussion um die EU-Taxonomie in die Atomthematik und lenkt damit ab von dem mehr als erstaunlichen Faktum, dass die grün-geprägte neue Regierung des selbsternannten Klimavorzeigelandes Deutschland einen fossilen Energieträger “grün-wäscht”.
Mit ihrer schier unglaublichen Haltung untergräbt die grüne Machtelite in Deutschland (und nicht nur dort) ihre Glaubwürdigkeit (auch in den eigenen Kreisen). Vorallem aber nimmmt die Glaubwürdigkeit der Dringlichkeit der Klimaproblematik schweren Schaden.
Anmerkung: das erwähnte Tagesgespräch habe ich nicht gehört.
Die irrationale Angst vor Radioaktivität und Strahlung ist heute insbesondere in den DACH-Ländern Allgemeingut. Ängste sind keine tragfähige Grundlage für Entscheidungen. Leider ist es uns (Physiker, Chemiker, Techniker und Strahlenschutzsachverständige) nicht gelungen, diese Ängste zu nehmen und so kommt, was kommen muss, eine Fehlentscheidung nach der anderen. Persönlich sehe ich zwei Wege aus dem Dilemma:
ein langer, der über zwei Generationen vergessen macht, welcher Unsinn im letzten Quartal des vergangenen Jahrhunderts aufgebaut wurde oder
ein Chlapf, wie ein mehrtägiger Blackout, der alle und jeden in diesem Europa so erdrückend betrifft, dass er sich umorientieren und seine Gedanken neu ordnen muss.
Beide Wege sind schmerzhaft und bringen viel Leid, das aus meiner Sicht vermeidbar gewesen wäre.
Könnte es sein, dass die Strahlenschützer (wohlmeinend) diese Ängste vor der radioaktiven Strahlung verstärkt haben?
Nicht nur die IRPA fragt: “Have we gone to far”.