Communication, Energy, Krieg, Nuclear Energy

Die Angst vor der Atomstrahlung und die Kriegspropaganda

AKW Saporischschia, Ukraine

Unsere übertriebene Angst vor der radioaktiven Strahlung macht sie zum idealen Mittel der Kriegspropaganda. Entsprechend nutzen beide Parteien im Ukrainekrieg dieses Instrument und schüren die Angst vor einer Atomkatastrophe. 

Zu Beginn des Krieges Ende Februar hat Russland mit der Drohung eines Atomwaffeneinsatzes versucht, die Ukraine zur Kapitulation zu erpressen und die NATO in die Schranken zu weisen. Das zweite ist weitgehend gelungen.

Jetzt ist das „grösste AKW-Europas“, Saporischschja, in der Südukraine das PR-Objekt:

Die Ukraine und Russland beschuldigen sich gegenseitig, bei der Auseinandersetzung um das unmittelbar an der Frontlinie in der Südukraine liegende Kernkraftwerk, ein „neues Tschernobyl“ zu provozieren. 

Das Zielpublikum dieser Propaganda ist keineswegs nur die Bevölkerug der Kriegsregion, sondern mindestens so sehr die Öffentlichkeit im Westen: Eine Atomkatastrophe in Saporischschja könne „zur Bedrohung für jedes einzelne Land in Europa werden”, orakelt zum Beispiel die ehemalige ukrainische Ministerpräsidentin Julia Timoschenko.

Natürlich wirkt die Propaganda – auch in der Schweiz. Die Neue Zürcher Zeitung zum Beispiel spricht zwar analytisch richtig von einem „perversen Spiel“ mit der Angst, nennt die ukrainischen AKW aber selbst auch „tickenden Zeitbomben“; und meint natürlich Atombomben.

Die meisten Experten, welche in den Medien bei uns zu Wort kommen, stimmen darin überein, dass wegen dem AKW Saporischschja selbst in einem Worstcase kein zweites Tschernobyl droht, schlimmstenfalls ein neues Fukushima (was doch die Meisten nicht wirklich beruhigen wird). Aber auch das sei höchst unwahrscheinlich.

Die  IAEA, die Internationale Atomenergie-Organisation der UNO, spielt eine schwierige Rolle:
Auf der einen Seite betont sie, das AKW Saporischschja stelle zurzeit kein Sicherheitsrisiko dar, um dann aber doch zu warnen, dies könne sich rasch ändern.

Natürlich hat die IAEA recht und mit ihr fast alle Experten, welche von den Medien befragt werden: So unwahrscheinlich eine Katastrophe selbst in der aktuellen Situation im und um das ukrainische AKW an der Kriegsfront ist, es sind immer Worstcase-Szenarien denkbar, welche zu einer Freisetzung von radioaktiven Stoffen führen können.

Doch selbst wenn das geschehen würde, wäre dies für uns keine Bedrohung:
Am Karlsruher Institut für Technolgie (KIT) werden mittels eines wissenschaftlichen Modells laufend Simulationsrechnungen für die mögliche Ausbreitung radioaktiver Stoffe aus Saporischschja gemacht; je nach Menge der Freisetzung und den Wind- und Wetterverhältnissen.
Wolfgang Raskob, der Leiter der Spezialistengruppe am KIT hat unter anderem gegenüber der „Zeit“ erklärt, dass die Winde im Raum Saporischschja meist in südlicher und/oder östlicher Richtung wehen. Eine radioaktive Wolke würde also vornehmlich auf das ukrainische Gebiet niedergehen, welches zurzeit von den russischen Truppen kontrolliert wird und das Russland auf Dauer zu kontrollieren beabsichtigt.

Das ukrainische Onlineportal „Trucha“ hat gemäss Medienberichten Ausbreitungsberechnungen vorgelegt, die wohl eher in Sinne der ukrainischen Propaganda sind: Bei nordwestlichen Winden könnte eine radioaktive Wolke über die ganze Ukraine hinweg bis nach Weissrussland und Polen ziehen – in das Gebiet, das schon die grössten Beeinträchtigungen durch die Tschernobylkatastrophe erlitten hat.

Das KIT versucht, Ängste in Deutschland zu mindern: Im über 1500 Kilometer entfernten Deutschland (und in der Schweiz) habe die Bevölkerung nichts zu befürchten. Deutschland würde von der Strahlung „so gut wie nichts mitbekommen“ und es müssten „keine Schutzmassnahmen“ ergriffen werden.

Um ganz klar zu sein:
Die Besetzung des AKW Saporischschja durch die russischen Truppen ist nocheinmal eine neue Dimension des so schon ungeheuerlichen Kriegs Russlands gegen die Ukraine. Russland benutzt das AKW als Schutzschild für seine Truppen und als Geisel zur Erpressung der Ukraine. Russland verletzt damit eine ganze Reihe von internationalen Abkommen, inkl. das Völkerrecht.

Die Besetzung folgt einer perverse Kriegstaktik: das AKW bietet nicht nur den dort stationierten Truppen Schutz, sondern dient der russischen Armee auch als Artilleriestellung, von welcher aus sie laufend u.a. die Städte Nikopol und Marhanez am gegenüber liegenden Ufer des Flusses Dnjepr bombardiert, welche noch immer von den ukrainischen Truppen gehalten werden.

Immer wieder in den letzten Tagen und Wochen wird auch das Gelände des AKW am Rand der Atomstadt Enerhodar beschossen. Die Russen machen geltend, es seien die Ukrainer, die schiessen. Die Ukrainer sagen, die Russen selbst tun es, um weiter Terror zu verbreiten.
Egal was stimmt, es scheint ein „vorsichtiger“, gut gezielter Beschuss zu sein, der sicherheitstechnisch heikle Bereiche des AKW verschont und eben in erster Linie der Propaganda dient.
Beide Kriegsparteien sind nicht an einem grösseren Zwischenfall im Kraftwerk oder gar an einer Freisetzung von Radioaktivität interessiert: Beide sind auf den Strom aus Saporischschja angewiesen. Im Krieg und erst Recht danach.
Die Ukraine behauptet auch, Russland sei daran, die technischen Voraussetzungen zu schaffen, damit Saporischschja vom ukrainischen Netz getrennt und in ein neues russisches Netz eingebunden werden könne, welches in Zukunft unter anderem die von Russland seit 2014 besetzte Halbinsel Krim mit Strom versorgen soll.

Seit Wochen fordert die Internationale Atomenergie-Organisation der UNO (IAEA) Zugang zum AKW, um sich vor Ort eine Bild über den Zustand der Anlage  zu machen. Nicht zuletzt will sie mit ihrer Präsenz natürlich zum Schutz des AKW beitragen. 

Russland hat eine solche IAEA-Visite von Anfang an begrüsst, denn sie wäre ganz im Sinne Russlands, wie die geharnischte Reaktion der Ukraine belegt: Der Besuch der IAEA sei ein Weg, die russische Besetzung des AKW zu legitimieren, schrieb die staatliche ukrainische Kraftwerksbetreiberin Energoatom auf ihrem Telegram-Kanal schon Ende Mai. Es sei „eine Lüge“, wenn IAEA-Generaldirektor Grossi sage, die Ukraine hätte die IAEA zu einem solchen Besuch eingeladen. Die ukrainische Nuklearsicherheitsbehörde stellte gleichzeitig klar, dass „der Vorschlag einer IAEA Mission für die Ukraine inakzeptabel“ sei, solange das AKW-Gelände und der Atomstadt Enerhodar von der russischen Armee besetzt seien.

Die UNO und ihre Atomenergiebehörde sind in einer heiklen Situation:
Sie müssen alles in ihrer Macht stehende tun, um die Sicherheit des AKW Saporischschja zu gewährleisten helfen. Gleichzeitig dürfen sie sich aber nicht zum Instrument der russischen Propagadna machen lassen.
Und die Russen spielen das perverse Spiel geschickt: Am 12. August sagte der ständige Vertreter Russlands bei der IAEA in Wien, Mikhail Ulyanov, gegenüber den russischen Medien, Russland habe im Mai und Juni intensiv mit der IAEA an der Vorbereitung einer Visite in Saporischschja gearbeitet und am 3. Juni habe sich Russland „vollständig“ mit der IAEA-Führung auf den Ablaufplan des Besuchs und die Route des Zugangs nach Saporischschja geeinigt. „Im letzten Moment“ habe dann aber das UN Sekretariat in New York den Besuch verhindert, ohne dafür Gründe anzugeben.
Mehrer Tage blieb diese brisante Aussage unwidersprochen. Erst gestern Abend kam dann ein Dementi der UNO: Das UN-Sekretariat habe gar keine Kompetenz, so ein Verbot auszusprechen.

Wie auch immer: Inzwischen hat auch die Ukraine einem Besuch der IAEA prinzipiell zugestimmt. Sie besteht aber auf der Bedingung des vorgängigen Abzugs der russischen Truppen nicht nur aus dem AKW, sondern aus der ganzen Region Saporischschja.
42 Staaten und die EU haben diese ukrainische Forderung jetzt in einer „gemeinsamen Erklärung“ aufgenommen: “Die Stationierung von russischen Militärs und Waffen in der Atomanlage ist inakzeptabel”, heisst es in der Erklärung. Russland verletze die Sicherheitsprinzipien, auf die sich alle Mitgliedsländer der Internationalen Atomenergie-Behörde verpflichtet hätten. Die Kontrolle über das AKW müsse den befugten ukrainischen Behörden übergeben werden. Erst dann könnten Experten der IAEA ihre Aufsichtspflicht wahrnehmen.

Nicht allzu überraschend hat Russland die Übergabe des Terrirtoriums um Saporischschja abgelehnt. Der russische Verteidigungsminister Sergei Schoigu sprach gestern Montag mit Uno-Generalsekretär Antonio Guterres am Telefon aber weiter über die Bedingungen für einen sicheren Betrieb des AKW – wohl unter russischer Hoheit.

Die Ukraine besteht darauf, dass die IAEA-Delegation via Kiev in die Region Saporischschja reist, Russland lehnt das als „viel zu gefährlich“ ab. Es seien noch viele Fragen zu klären, lässt Moskau verlauten und eine Besuch der IAEA sei wohl nicht vor Ende August möglich.

Es scheint, die Kriegsparteien sind gar nicht so unglücklich, wenn die Thematik weiter in den Schlagzeilen bleibt und die internationale Politik beschäftigt. So kann unsere Angst vor einer möglichen Atomkatastrophe weiter propagandistisch bewirtschaftet werden:

«Die radioaktive Bedrohung für Europa ist so erhöht, wie es sie nicht einmal in den Zeiten des Kalten Krieges gab», hat der ukrainische Präsident Selenski gestern Abend betont.

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