Schweizer Energiestrategie: Eine grundsätzliche Neudiskussion ist Pflicht
2017 hat das Schweizer Stimmvolk der Energiestrategie2050 zugestimmt, die auch eine drastische Reduktion der CO2-Austosses der Schweiz beinhaltet. In der Wahrnehmung der Öffentlichkeit ging es aber primär um den Ausstieg aus der Atomenergie.
2019 hat dann der Bundesrat als „Klimaziel“ der Schweiz „Netto-Null“ bis 2050 gesetzt und vor noch nicht ganz einem Jahr hat er eine „Langfristige Klimastrategie der Schweiz“, mit eben diesem Ziel offiziell genehmigt und beschlossen.
Diese Klimastrategie basiert weitgehend auf den Energieperspektiven2050+, welche 2020 erstmals aufzeigten, wie die Energiestrategie umgesetzt und das Netto-Null-Ziel erreicht werden sollte.
Die Energieperspektiven wurden im Auftrag des Bundesamtes für Energie (BfE) von derselben Firma (Prognos) erarbeitet wurden, welche schon die Federführung bei der Entwicklung der Energiestrategie2050 hatte.
Nicht ganz überraschend war die wichtigste Erkenntnis: Die Energiestrategie „ist auf Kurs“ und Netto-Null ist bis 2050 möglich.
Eine andere Schlussfolgerung war allerdings auch nicht zu erwarten, denn andernfalls wäre dies eine Bankrotterklärung für die geltende Energiestrategie der Schweiz gewesen.
Eine wirkliche Diskussion über die Energieperspektiven2050+ hat bisher zumindest in der Öffentlichkeit kaum stattgefunden. Der Anflug einer Diskussion ist jüngst zwar in der NZZ aufgeflackert, aber insgesamt haben die Medien die Energieperspektiven offenbar einfach zur Kenntnis genommen (mit Ausnahme der „Weltwoche“ natürlich).
Das erstaunt doch einigermassen, denn der Anlass zu einer kritischen Überprüfung und zu einer breiten öffentlichen Auseinandersetzung mit diesen Szenarien ist mehr als gegeben. Sie zeigen den Schweizer Weg zu Netto-Null auf, den die offizielle Schweizer Energie- und Klimapolitik verfolgen soll. Diese Energieszenarien sind damit für die Zukunft der Schweiz nicht ganz unwichtig.
Der Ukrainekrieg hat deutlich werden lassen, dass die „Energiewende“ insbesondere unter Einbezug des Themas Versorgungssicherheit dringend (neu) zu diskutieren ist – nicht zuletzt auch mit dem Blick auf andere Bereiche des Umwelt- und des Landschaftsschutzes.
Ich fürchte, nur ganz Wenige habe auch nur die Zusammenfassung der Energieperspektiven des BfE gelesen, geschweige denn den umfangreichen „technischen Bericht“ der Firma Prognos.
Einer, der alle verfügbaren Unterlagen gründlich studiert hat, ist Georg Schwarz, langjähriger Insider der Schweizer Energiepolitik. Seine Analyse ist seit einigen Tagen unter dem Titel “Wer nicht weiss, muss alles glauben“ öffentlich.
Schon die Einleitung lässt aufhorchen. Schwarz schreibt: „Die zentralen Schlussfolgerungen der Energieperspektiven 2050+ können aufgrund der dazu publizierten Berichte nicht nachvollzogen werden.“
Selbst der 461 Seiten starke technische Bericht enthalte eine Vielzahl von „nicht nachvollziehbaren Annahmen, welche selbst eine einfache Plausibilisierung nicht möglich machen.“
Es gäbe zudem auch „keine Hinweise darauf, dass das auftraggebende Bundesamt für Energie die Energieperspektiven 2050+ einer unabhängigen Überprüfung unterzogen hätte oder dies in Zukunft beabsichtigt“. Und weiter:
„Das Bundesamt übernimmt für die Energieperspektiven 2050+ auch keine Verantwortung, wird doch in den Berichten einleitend explizit festgehalten, dass für den Inhalt und die Schlussfolgerungen ausschliesslich die aus der Privatwirtschaft stammenden Autoren der Berichte verantwortlich sind.“
Weil eine 1 zu 1 Überprüfung aufgrund der öffentlich greifbaren Unterlagen der Prognos also nicht möglich ist, hat Schwarz einen vereinfachten Ansatz gewählt, „der ohne komplexe Modelle auskommt und zur Not auch mit einem Taschenrechner durchgerechnet werden kann.“
Die Detailaussagen der verschiedenen Szenarien der Energieperspektiven 2050+ könnten damit zwar nicht überprüft werden, „aber das Ziel dieses vereinfachten Vorgehens ist es, die zentralen Schlussfolgerungen der Energieperspektiven 2050+, insbesondere des Basisszenarios ZERO, einer Plausibilitätsprüfung zu unterziehen.“
Seine Schlussfolgerung wird zunächst alle überraschen, die wissen, dass Georg Schwarz bis zu seiner kürzlich erfolgten Pensionierung Vizedirektor des ENSI war, und sie deshalb eine grundsätzliche Ablehnung der Strategie des Bundes unter Verzicht auf den Atomstrom erwarten:
„Die Energiewende ist technisch machbar und mit tragbaren Zusatzkosten verbunden.“
Im Grundsatz widerspricht er also der Schlussfolgerung der Energieperspektiven2050+ des BfE/Prognos nicht. Aber Schwarz’ Analyse zeigt in aller Deutlichkeit, dass das Netto-Null-Ziel mit den Szenarien, welche die Energieperspektive2050+ als gangbar beschreibt, nicht erreicht werden kann.
Ich habe Georg Schwarz gebeten, die wichtigste Schlussfolgerungen seiner Analyse zusammenzufassen:
- Die Energiewende ist zwar technisch machbar und auch die Zusatzkosten sind tragbar. Aber: Wenn eine sichere Stromversorgung auch im Winter gewährleistet sein soll, ist es unumgänglich, Tausende Windturbinen und grosse Solaranlagen in den Bergen zu bauen – und die damit verbundenen Landschaftsbeeinträchtigungen in Kauf zu nehmen.
- Die Gebäudephotovoltaik geniesst zwar die grösste gesellschaftliche Akzeptanz, ist jedoch aus technischer Sicht mit Abstand die schlechteste Lösung. Sie ist teurer als Wind- und alpine Solaranlagen und liefert dann am meisten Strom, wenn er nicht gebraucht wird. Ihr Ausbaupotenzial reicht nicht aus, um die Versorgungslücke im Winterhalbjahr zu decken. Trotzdem werden in der Energiestrategie die durchaus vorhandenen Alternativen wie Wind-, Alpen- und Atomstrom nicht berücksichtigt.
- Die offizielle Energiestrategie vertraut stattdessen in wesentlichen Bereichen auf Importe. Neben Strom im Winter sollen beträchtliche Mengen an klimaneutralem Wasserstoff und Biomethan zum Betrieb von Gaskraftwerken importiert werden. Wie die Erfahrungen des aktuellen Winters zeigen, ist das mit gehörigen Risiken verbunden. Es ist nicht garantiert, dass die vereinbarten Importmengen in einer Krisensituation auch tatsächlich geliefert werden.”
- Flugzeugtreibstoffe: Der Ersatz der fossilen Flugzeugtreibstoffe durch klimaneutrales Synthesekerosin benötigt nocheinmal soviel zusätzlichen Strom wie alle übrigen Massnahmen der Energiestrategie zusammen. Doch niemand spricht darüber. Flugzeugtreibstoffe werden in der geltenden Schweizer Energiestrategie einfach ausgeblendet. Doch der Gegenvorschlag des Bundes zur Gletscherinitiative (Artikel 3.6), über den wir voraussichtlich noch dieses Jahr (voraussichtlich am 18. Juni 2023) abstimmen werden, will das ändern. Er verlangt, dass künftig “die Emissionen aus in der Schweiz getankten Treibstoffen für internationale Flüge und Schifffahrten mitberücksichtigt” werden.”
Schwarz’ Analyse macht das zentrale Problem der Energieperspektiven2050+ und damit der geltenen Energie- und Klimastrategie der Schweiz deutlich:
Fehlende Transparenz bezüglich der getroffenen Annahmen und fehlende Ergebnisoffenheit; man nennt es auch Voreingenommenheit.
Nicht die technisch besten, verfügbaren und kostengünstigsten Lösung werden aufgezeigt und zur Diskussion gestellt, sondern nur Varianten innerhalb von engen Vorgaben, welche offenbar von Beginn an den Vorstellungen der Auftragegeber (und der beauftragten Privatfirmen) entsprachen oder für politisch akzeptabel gehalten wurden.
Es ging nicht wirklich darum, die Erfahrungen, die in der Zwischenzeit mit der Energiewende im In- und Ausland gemacht wurden, für eine Justierung der Massnahmen oder gar einer Anpassung der Strategien zu nutzen, sondern bloss um die Demonstration der Richtigkeit des eingeschlagenen Wegs.
Eine neue öffentliche Diskussion der Schweizer Energie- und Klimapolitik unter Einbezug breiter Kreise auf der Basis der bisherigen (auch internationalen) Erfahrungen mit der Energiewende ist dringend nötig – und nicht zuletzt in einer Demokratie wie der Schweiz Pflicht. Die Schweizer Bevölkerung ist heute viel besser informiert und sensibilisiert als noch vor der Abstimmung 2017 zur Energiestrategie2050.
Wir dürfen gespannt sein, ob der neue Energieminister, Bundesrat Albert Rösti, einen Weg findet, die Diskussion über die Zukunft der Schweiz wieder zu öffnen.