Wird das Netto-Null-Ziel massiv verschärft?
Jetzt dürfen wir also doch über das Herzstück der Schweizer Energie-, respektive Klimapolitik abstimmen: das Ziel Netto-Null bis 2050. Das Referendum zum indirekten Gegenvorschlag des Parlaments zur Gletscherinitiative ist zustande gekommen.
Aber Achtung: Das Netto-Null-Ziel, über das wir wohl noch dieses Jahr abstimmen werden, ist nicht das, über das Bundesrat, Parlament, Parteien und Medien schon länger reden. Es ist auch nicht das Netto-Null-Ziel, zu welchem sich die Schweiz im internationale Klimaabkommen verpflichten wird und auch nicht das, welches als Basis für die Szenarien der Energieperspektiven 2050+ gebraucht wurde:
Wir werden über ein Netto-Null-Ziel 2050 inklusive Flugtreibstoff abstimmen. So steht es im Artikel 3.6 des “Bundesgesetz über die Ziele im Klimaschutz, die Innovation und die Stärkung der Energiesicherheit”, wie der indirekte Gegenvorschlag offiziell heisst.
Bisher gingen wir von der Annahme aus, dass das im internationalen Flugverkehr benötigte Kerosin bei den Netto-Null-Berechnungen ausgeklammert wird, wie dies auch im Klimaabkommen von Paris 2015 international beschlossen worden war.
Ich habe es zunächst auch fast nicht geglaubt, als mich mein Kollege Schwarz auf diese Ausweitung des Netto-Null-Ziels auf alle Flugtreibstoffe aufmerksam machte – eine Ausweitung, welche ja eigentlich nur logisch und ehrlich ist.
Ich war auch bei Weitem nicht der Einzige, dem diese Verschärfung nicht bewusst war. Selbst der Kommunikationschef des BAFU hat uns auf Twitter zunächst sarkastisch abzukanzeln versucht und behauptet, im vorgeschlagenen Gesetz komme das Wort Kerosin gar nicht vor. Da hat er ganz streng genommen recht, denn im im Gesetzestext steht tatsächlich nicht “Kerosin”, sondern “die Emissionen aus in der Schweiz getankten Treibstoffen für internationale Flüge und Schifffahrten”.
Tatsächlich geht auch die Langfristige Klimastrategie 2050, welche der Bundesrat anfang 2021 verabschiedet hat, davon aus, dass «im Betrachtungszeitraum bis 2050 der Einsatz von CO2-neutralen synthetischen Treibstoffen die einzige wirkliche Alternative sein dürfte.»
Mit dieser Ausweitung der Dekarbonisierung auf Kerosin ist die Herausforderung Netto-Null bis 2050 plötzlich doppelt so gross, wie bisher angenommen: Der Ersatz des fossilen Flugtreibstoffs durch klimaneutrales Synthesekerosin wird zusätzlich rund 54 Terawattstunden CO2-freien Strom benötigen, wie Georg Schwarz in seiner Analyse zur Plausibilisierung der Energieperspektiven vorrechnet. Das heisst, wir müssen rund doppelt soviel klimaneutralen Strom zum Umbau unseres Energiesystems aus ausschliesslich erneuerbaren Energien produzieren (oder aus dem Ausland importieren), als wir bisher angenommen haben.
54 Terawattstunden, das entspricht der Strommenge, welche 2350 Gondosolar-Anlagen pro Jahr produzieren oder 5 einhalb AKW von der Grösse des Kraftwerks Leibstadt. Zusätzlich.
Aber zurück zur guten Nachricht, dass wir jetzt doch über das Netto-Null-Ziel abstimmen dürfen:
Eigentlich wollten die Initianten der Gletscherinitiative und auch der Bundesrat das Netto-Null-Ziel in die Verfassung schreiben – was angesichts seiner überragenden Bedeutung auch nicht wirklich falsch gewesen wäre.
Doch im Spätsommer 2021 hat das Schweizer Stimmvolk zur grossen Überraschung des Politestablishments das revidierte CO2-Gesetz abgelehnt, welches Bundesrat und Parlament immer als „Fundament“ und „Voraussetzung für eine Klimastrategie“ mit dem Netto-Null-Ziel bezeichnet hatten.
Angesichts der teils wuchtigen Ablehnung des CO2-Gesetzes in ländlichen Kantonen fürchteten nicht nur die Initianten der Gletscherinitiatve, das nötige Ständemehr werde zu einer „mission impossible“ .
Die Initianten der Gletscherinitiative waren deshalb noch so froh, dass ihre zahlreichen Verbündeten in der Politik einen indirekten Gegenvorschlag ausarbeiteten, der nicht nur die wesentlichen Elemente ihrers Begehrens aufnahm, sondern es ihnen auch erlaubte, die Initiative zurückzuziehen.
Ein indirekter Gegenvorschlag kommt gemäss Gesetz nur vors Volk, wenn dagegen das Referendum zustande kommt. Und bis zuletzt hatten nicht Wenige darauf gehofft, dass die SVP die nötigen Unterschriften nicht zustande bringen werde und man das Volk bei dieser entscheidenden Zukunftsfrage nicht mitreden lassen müsste: Eine erneute Niederlage an der Urne würde nicht nur einer ganzen Reihe von Entscheiden, die inzwischen schon auf der Basis des Netto-Null-Ziels getroffen wurden, den Boden entziehen, sondern es gäbe weiterhin keine politisch wasserfeste Grundlage für das, was eine Mehrheit des Politestablishments für richtig und unausweichlich hält.
Man mag darüber diskutieren, ob diese Haltung wirklich im Sinne unserer Demokratie ist. Aber so sind nun mal die Spielregeln. Man mag auch darüber diskutieren, was die wahren Absichten der SVP mit diesem Referendum sein mögen.
Aber eine Volksabstimmung über das zentrale Klimaziel der Schweiz „Netto-Null bis 2050“ ist einfach ein Muss. Gut, ist das Referendum schliesslich doch noch zustande gekommen.
Und die Chance, dass eine Mehrheit der Leute, die abstimmen werden, das Netto-Null-Ziel bejahen, sind nicht schlecht, denn für einen indirekten Gegenvorschlag reicht das einfache Mehr; die Landkantone können überstimmt werden.
Persönlich hoffe ich auf eine Annahme des indirekten Gegenvorschlags des Parlaments und die Festschreibung des verschärften Netto-Null-Ziels im neuen Klimaschutzgesetz – aber dieser Entscheid muss das Resultat einer umfassenden, transparenten Information und einer breiten, öffentlichen Diskussion sein. Die Schweizer Bevölkerung hat das Anrecht auf eine grundsätzliche, ergebnisoffene Neudiskussion der Energiestrategie, so dass sie am Abstimmungstermin sicher sein kann, eine „fully informed decision“ zu treffen. Dann wird es auch weniger Leute geben, welche wie bei der CO2-Abstimmung einfach aus Protest „nein“ stimmen, weil sie sich von einem abgehoben Politestablishment in Bern nicht ernst genommen oder gar als unbelehrbare Hinterwäldler verachtet fühlen.