Kosovo, Syri I Popullit

Sittenbild der Medienkultur Kosovos

Bild: A. Müller

“Wenn diese Geschichte wahr ist, ist es der grösste Skandal des Nachkriegs-Kosovo“ schrieb der angesehene Anwalt Arianit Koci auf Facebook am Tag als die neue Online-News-Seite „Paparaci.com“ vor inzwischen mehr als zwei Wochen „enthüllte“, dass die beiden wichtigsten Zeugen der Staatsanwaltschaft im Fall „Syri i popullit“ Agenten des Geheimdienstes waren und unter Eid gelogen hatten. 

Auf den Aussagen dieser Agenten, die mit einer falschen Identität versehen als „geschützte Zeugen“ auftraten, basierte auch die Behauptung von Staatspräsident Hashim Thacis vor Gericht, hinter „Syri i Popullit“ stehe neben und mit dem Hauptangeklagten Sadri Ramabaja die wichtigste Oppositionspartei Vetëvendosje und deren Führer Albin Kurti und Glauk Konjufca.

Weil es bis heute kein offizielles Dementi der „Enthüllung“ von Paparaci gibt, dürfen wir wohl davon ausgehen, dass die Geschichte stimmt. Tatsächlich ist sie ja nicht wirklich eine „Enthüllung“. Sie ist vielmehr eine Bestätigung für das, was Anwalt Ramiz Krasniqi, der Verteidiger Sadri Ramabajas, schon vor Gericht und in einem Buch herausgearbeitet hat:
„Syri i Popullit“ war/ist ein Komplott des Geheimdienstes der (ehemaligen) Führungsriege des Staates Kosovo um Präsident Hashim Thaci. Ein verzweifelter Versuch, die drohende Niederlage bei den Parlamentswahlen anfang 2021 noch abzuwenden. Die “Terrororganisation” „Syri i Popullit“ wurde als bewaffneter Arm von Vetëvendosje verkauft in der Absicht, damit die Partei für illegal erklär zu erklären und ihre wichtigsten Exponenten Albin Kurti und Glauk Konjufca hinter Gitter bringen zu können.

Obwohl die Information also nicht ganz neu war, war ich elektrisiert, als ich vor  rund zwei Wochen die Paparaci-Story las. Ich hoffte, dass die Medien und die Journalisten jetzt endlich ihre Zurückhaltung gegenüber der „Story“ um “Syri i Popullit” aufgeben, dass sie jetzt auf die Geschichte aufspringen und die wahren Hinter- und Abgründe dazu recherchieren und aufdecken würden.

In meinem journalistischen Verständnis war und ist die Affäre „Syri i Popullit“ nicht nur staatspolitisch höchst relevant als offensichtliches Beispiel des „gekaperten Staates“. Sie scheint mir auch voll von Zutaten zu sein, welche den Medien über längere Zeit viel Marktaufmerksamkeit (Clicks und Einschaltquoten) garantieren würde: direkte Verwicklung von Toppromis, inkl. die gesamte Staatsführung, dunkle Intrigen des Geheimdienstes, Korruption, persönliche Dramen und dazu brisante historische Zusammenhänge mit tagesaktuellem Bezug zum anstehenden Prozess gegen Hashim Thaci, Kadri Veseli, Rexhep Selimi und Jakup Krasniqi vor dem Kosovo Sondergericht in Den Haag.

Besonders optimistisch stimmte mich der Umstand, dass die brisanten Informationen von einem Newsportal kamen, das nicht als besonders Vetëvendosje-nah gilt. Paparaci.com ist das neue Portal von Vehbi Kajtazi, dem ehemaligen Macher eines andern Newsportals, “Insajderi”. (Leider hat Vehbi Kajtazi meine wiederholten Anfragen um ein Hintergrundgespräch nicht beantwortet). Er wird in der Medienlandschaft von Prishtina eher dem politischen Lager zugeordnet, deren Exponenten er mit seiner „Enthüllung“ jetzt an den Pranger stellt.

Doch mein Optimismus war weit gefehlt. Es geschah nichts dergleichen.
Der Scoop von Paparaci erschien in den Medien Kosovos, wenn überhaupt, höchstens als Randnotiz, in der Art „Wie Paparaci berichtet, …“. 
Keine fetten Schlagzeilen und schon gar keine vertiefenden Recherchen, keine Hintergründe und Einordnungen, nicht einmal Fragen.

In den letzten Tagen habe ich in einer ganzen Reihe von Gesprächen mit Medienschaffenden und Politanalysten versucht, besser zu verstehen, warum bis heute niemand wirklich in Kosovo öffentlich über „Syri i Popullit“ reden will.
Das Fazit ist wenig erfreulich:

Der Fall „Syri i Popullit“ manifestiert nicht nur ein sehr unschönes Sittenbild des kosovarischen Justiz- und Sicherheitsapparats (wie es Anwalt Krasniqi in seinem Buch und in einem Interview mit Contextlink diagnostiziert hat), sondern auch der Medienlandschaft Kosovos: Das „System Thaci“ hat auch die Medienszene durchdrungen. Selbst die wenigen Medien und Medienschaffenden, welche für sich noch eine gewisse Unabhängigkeit reklamieren und bewahren, kennen die Grenzen ihres „Spielraums“.

Ich gehe davon aus, dass die meisten Medienmacher in Kosovo die Meinung des Gründers eines als “unabhängig” geltenden Newsportals teilen: “Wir haben „angemessen“ über ‘Syri i Popullit’ berichtet.” Das wohl heisst: „Mehr gibt es zu dem Fall auch nicht zu sagen.“

Ins gleiche Horn blies ein durchaus wohlwollender Kritiker: „Vielleicht bis Du einfach voreingenommen bei der Geschichte, weil der Hauptangeklagte im Prozess um „Syri i Popullit“, Sadri Ramabaja, dein Freund ist.“

Wieder andere Medienschaffende erklärten entschuldigend, sie hätten keine Zeit für aufwändige Recherchen und überhaupt müssten sie sich jetzt mit den laufenden Lokalwahlen beschäftigen. 

Es gab aber auch Leute, die mich wohlwollend ermunterten, weiter dranzubleiben: „Eine unglaubliche Geschichte, die es Wert ist, weiter verfolgt zu werden.“ Oder: „Es ist gut, wenn Du das aus Deiner Aussensicht machst.“

Häufiger bekam ich zynische Aussagen zu hören im Sinn von: „Mich erstaunt, dass Du Dich wunderst. Das ist doch keine gute oder gar neue Geschichte. Alle wissen, dass es immer so läuft in Kosovo.“

Zynismus ist eine Krankheit, die auch unter Journalisten in der Schweiz grassiert. Von der Krankheit befallen werden meist erfahrene, desillusionierte und frustrierte Journalisten.

Die meisten kosovarischen Journalisten, mit denen ich Kontakt habe, reden nicht gerne über die eigenen Abhängigkeiten und Zwänge, aber alle verweisen schulterzuckend auf die fehlende Unabhängigkeit der Anderen: Die verschiedenen Medien werden klar der einen andernen politischen Partei zugeordnet. Dabei meinen sie nicht bloss (wie das auch in der Schweiz der Fall ist), dass das jeweilige Medium und seine Journalisten ideologisch der einen oder anderen Partei nahestehen, sondern die Rede ist von einer ganz direkten Abhängigkeit:

  • Sie tun alles für Geld“;
  • „Er (XY) hat einen Auftrag von …“;
  • „Schau mal sein Haus in dem noblen Quartier“;
  • „Sie hofft, bald einen Job im Ministerium zu bekommen“;
  • Der Sender lebt von illegalem Geld“,
  • usw..

Alle trauen allen andern Schlechtes zu. Alle haben in den letzten Jahren so viele schlechte Erfahrungen gemacht, dass sie immer davon ausgehen, dass „die andern“ skrupellos sind und alles für den eigenen, kurzfristigen Vorteil tun.
„Das gilt nicht nur für die Medien und die Politik,“ sagt ein Freund schulterzuckend. Leider gelte das für die ganze Gesellschaft.

Offiziell und formell ist Kosovo eine Demokratie und ein Rechtsstaat. Doch niemand glaubt daran. Alle gehen davon, dass die jeweiligen Machthaber die Demokratie und die Gesetze zu ihren Gunsten manipulieren.
So ist heute für diejenigen, welche eher der letztes Jahr abgelösten Regierung Thaci zuneigen, völlig klar, dass die Reformversprechungen der neuen Regierung um Albin Kurti (Vetëvendosje) blosse Propaganda sind, und dass Kurti&Co jetzt selbstverständlich vorallem sich selbst und ihre Klientel bedienen werden.

Natürlich spricht diese Unterstellung/Vorstellung Bände darüber, wie diese Leute das „System Thaci“ in den letzten Jahren erlebt haben.

In dem kleinen Land mit nur rund zwei Millionen Einwohnern gibt es unverhältnismässige viele Medien (Newsportale, TV-Sender, Zeitungen, etc.). Alle reklamieren „Unabhängigkeit“ für sich. Nur glaubt niemand daran. Selbst die meisten Medienschaffenden nicht. (Ausnahmen bestätigen die Regel).

Wenn Leute, die zur politischen Community gehören (Politiker, Journalisten, höhere Behördenvertreter, aber auch Intellektuelle ganz allgemein), mit Kollegen und Bekannten über einen gelesenen Artikel oder eine gesehene Sendung reden, dann geht es meist nicht um den eigentlichen Inhalt der „Story“, sondern um die Frage: Warum hat wer was publiziert? In wessen Auftrag und mit welchem Ziel? Und dass das eigentliche Ziel des Artikels oder der Sendung jeweils nicht die schlichte inhaltliche Information ist, ist für alle „klar“.

Und so wird auch die „Enthüllung“ von paparaci.com im Fall „Syri i Popullit“ im persönlichen Gespräch vielfältig interpretiert:

  • Die Einen sagen, der politische Wind habe eben gedreht. Es sei im Interesse der neuen Regierung, dass Informationen, welche die abgewählte und in Den Haag vor Gericht stehende Regierung diskreditiere, an die Öffentlichkeit gelangen. 
  • Es gebe deshalb innerhalb des Polizei- und Justizapparates Kreise, die es jetzt, nach dem Regierungswechsel, wagen, die Wahrheit an den Tag zu bringen. Oder, eine Variante davon:
  • Die Leute im Justizapparat würden einfach weiter das tun, was sie schon bisher getan haben: Sie verhalten sich opportunistsich und singen das Lied der aktuellen Machthaber.
  • Andere unterstellen einen Zusammenhang zur Anfrage des DenHaaager Spezialgerichts an die kosovarische Polizei, ob sie bei einer Verlegung Hashim Thacis aus dem Gefängnis in Den Haag in einen Hausarrest in Kosovo garantieren könne, dass dieser strikt überwacht und eingehalten werde. Inzwischen ist ein entsprechendes Gesuch von Thacis Anwalt in Den Haag abgelehnt worden.

Warum aber sollten die Vetëvendosje zugewandten Kreise die brisanten Dokumente und Informationen ausgerechnet an einen Journalisten „leaken“, der dem Pro-Thaci-Lager zugerechnet wird?

Einige mutmassen, diese Dokumente seien gar nicht erst jetzt geleakt worden. Vehbi Kajtazi verfüge schon viel länger darüber. Damit aber stellt sich die Frage, warum er sie nicht schon früher publiziert hat oder besser: warum er sie gerade jetzt publiziert?

Dies führt zur einer neuen Spekulation:
Hashim Thacis versuche damit, das Komplott „Syri i Popullit“ ganz dem damaligen Geheimdienstchef Driton Gashi und dem federführenden Staatsanwalt Sylë Hoxha in die Schuhe zu schieben. Thaci sei von seinen eigenen Leuten betrogen worden. Er habe seine Zeugenaussage vor Gericht auf der Basis der (heute offensichtlich) falschen Information dieser Leuten basiert.

Doch dageben spricht nicht nur das ganze Verhalten von Hashim Thaci und Kadri Veseli im “Syri i Popullit”-Prozess vor Gericht, sondern auch der Umstand, dass Präsident Thaci Driton Gashi nach seiner Entlassung als Geheimdienstchef 2018 (durch den damaligen Premierminister Haradinaj) zum Sekretär seines persönlichen, präsidialen Büros befördert hat.

Eine andere Spekulation sagt, die Paparaci-“Enthüllung” sei ein Manöver Kadri Veselis, um sich von Hashim Thaci abzusetzen. Vehbi Kajtazi sei schon lange in erster Linie „der Mann Veselis“.

Allein diese Spekulationen sagen alles über die Polit- und Medienkultur von Kosovo: Keine Unterstellung kann wild genug sein, um nicht geglaubt zu werden.

Offiziell gilt in Kosovo die Rede- und Pressefreiheit. Und tatsächlich scheint man im Kosovo in den Medien alles sagen zu dürfen. Kosovo ist nicht Belarus. Hier darf man in einer TV-Debatte den Staatspräsidenten ungestraft einen “kriminellen Banditen” nennen. Dies scheint auf den ersten Blick eigentlich ein gutes Zeichen. Aber was ich in den Medien lese, sehe und höre, ist allzuhäufig eine unsägliche, laute Kakophonie voller gegenseitiger Beschimpfungen und Unterstellungen. Vorallem aber muss man nicht lange an der grell-bunten Oberfäche kratzen, um darunter den grössten Feind der Freiheit zu erkennen: die Angst.

Kein Stichwort habe ich in meinen Gesprächen häufiger notiert als „Angst“. Es geht dabei nicht nur um die Angst der Medienschaffenden, ihren Job zu verlieren, sondern um krude, physische Angst, verprügelt oder gar getötet zu werden: Journalisten erhalten Morddrohungen, es werden Sprengstoffanschläge auf unliebsame Redaktionsleiter verübt, usw..

Natürlich sind in erster Linie “linke” Regimekritiker von solchen Übergriffen bedroht, aber nicht nur. Es gibt zahlreiche handfeste Rivalitäten und persönliche Animositäten innerhalb des “Systems Thaci”, welche auch zu Opfern unter den tendenziell regimefreundlichen Medienschaffenden führen (u.a auch Vehbi Kajtazi).

Damit aber ist noch immer nicht klar, warum die tendenziell Vetëvendosje-nahen Medien jetzt nicht auf die Geschichte „Syri i Popullit“ aufspringen. ë

  • Vetevendosje-kritische Stimmen sagen, die Regierung Kurti sei nicht wirklich daran interessiert, dass die ganze Wahrheit um „Syri i Popullit“ ans Tageslicht komme.
  • Andere mutmassen, die Vetëvendosje-nahen Medien und ihre Journalisten seien beschämt, dass sie bisher nur ihrer Pflicht als News-Chronisten mehr oder weniger schlecht nachgekommen seien und nicht schon früher den Mut aufgebracht hätten, hintergründig über die Affäre „Syri i Popullit“ zu recherchieren und zu berichten oder – noch unangenehmer – nicht über das berichtet zu haben, was sie schon länger zum Fall wissen.

Die für mich frappierendste, aber einleuchtendste Erklärung kommt von einem alten Bekannten:
„Du täuschst Dich, wenn Du glaubst, mit dem Regierungswechsel werde sich sich auch die Medienlandschaft Kosovos schnell veränderen oder die pro-Vetëvendosje-Medien würden sich jetzt rasch ‚befreien‘. Das System Thaci ist nicht einfach verschwunden.“

Offenbar trauen viele, tendenziell Thaci-kritische Medien und ihre Journalisten der Sache mit dem Machtwechsel zu Vetëvendosje nicht so ganz. Im vergangenen Frühjahr gab es „Insider“-Gerüchte, die neue Kurti-Regierung werden schon diesen Herbst stürzen.
Dies ist bekanntlich nicht passiert. Jetzt wird kolportiert, Kurti werde, wenn nicht schon sehr bald, spätestens bei den nächsten Parlamentswahlen abgewählt.
Wie immer, fürchtet man in Kosovo nicht nur interne Ränkespiele, sondern auch mächtige ausländische Einmischungen wie jüngst durch die Trump-Regierung der USA. Einige fürchten gar, die Serben würden einen neuen Krieg anzetteln, welcher den alten UÇK-Kommandanten in die Hände spielen würde.

Deshalb, sagt man uns, warten die tendenziell Thaci-kritischen Medien und -Journalisten ab. Sie bleiben vorsichtig und werden sich bis auf weiteres nicht zu weit aus dem Fenster lehnen.

Sie trauen der Quelle Kajtazi nicht und unterstellen ihm eine andere politischen Agenda als die rein journalistische „Enthüllung“. Sie durchschauen diese unterstellte Agenda zwar nicht, wollen sich aber nicht dafür instrumentalisieren lassen.

Zu den grossen Verlierern des jüngsten Machtwechsels müssten gemäss den Mechanismen der bisherigen Medien- und Polit-Kultur Kosovos die Medienhäuser und insbesondere deren Exponenten gehören, die bisher vom System Thaci profitiert haben. Es ist nur logisch, dass sie auf einen baldigen Sturz der Regierung Kurti – und/oder gar auf eine baldige Rückkehr Hashim Thacis an die Macht hoffen. Entsprechend unternehmen sie alles, um eine Stabilisierung der Regierung Kurti und eine weitere Vertrauensbildung in der Bevölkerung zu untergraben.

Die neue Regierung kann es sich aber nicht erlauben, offen gegen Medien, dem alten Regime nahestehen, vorzugehen und sie enger an die Kandare zu nehmen. Das Renommee der Kurti-Regierung als anti-These zur autoritären Thaci-Regierung wäre rasch ruiniert.
Es ist davon auszugehen, dass eine grosser Teil der Medien weiter die Hoffnung eines nicht kleinen Anteils der Bevölkerung Kosovos auf eine Rückkehr Thacis bewirtschaften ist. Und es ist zu befürchten, dass nicht so schnell ein Medienhaus viel Energie auf die Darstellung des Falls “Syri i Popullit” als Abbild des “gekaperten Staates” durch das “System Thaci” aufwenden wird.

Nein, das Sittenbild der kosovarischen Medienlandschaft ist leider nicht schön. Und viele Journalisten sehen keine mittelfristige Perspektive zur Verbesserung der Situation; auch nicht ihrer persönlichen. Deshalb werde ich immer wieder (nach dem dritten Bier) gefragt: „Kannst Du mir helfen, einen Job in der Schweiz zu finden“.

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